DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
auf eine Tür dort drüben zu halten.
Der Hauptmann hatte Tan letztlich von neun ihn nun umgebenden Wärtern beschützen lassen und fünf von ihnen befohlen, nicht dem Gefangenen Beachtung zu schenken, sondern den umliegenden Straßen. Ein halbes Dutzend Krähen flogen über sie und krächzten heiser. Dann flatterten sie der kleinen Prozession voraus und über den Dächern beiderseits des Weges. Eine weitere Krähe hockte auf der Schulter des Hauptmanns und drehte den Kopf mal hierhin, mal dorthin; die glänzenden schwarzen Augen blickten intelligent und wachsam. Wie es schien, hatte der Hauptmann eine Verbundenheit zu Krähen. In dieser Situation konnte sich Tan kaum eine nützlichere Affinität vorstellen, obwohl es ihm lieber gewesen wäre, wenn eine größere Schar die Augen aufgehalten und auf mögliche Schwierigkeiten geachtet hätte. Trotzdem schien es unwahrscheinlich, dass sich jemand mit einem Bogen auf einem Dach unbemerkt verstecken konnte, wenn auch nur einige wenige Krähen wachsam vorbeiflogen. Sogar jemand, der seinen Pfeilen zuflüstern konnte, sodass sie sich in der Luft wendeten, um das Ziel zu treffen, musste auf irgendeinen Punkt nahe der Stelle zielen, die er treffen wollte.
Der Hauptmann folgte dem Flug der Krähen mit finsterem Blick und sah dann erneut Tan an. Vielleicht argwöhnte er eine List seines Gefangenen. Tan hätte nur zu gern eine List im Kopf gehabt, aber dies war nicht der Fall. Vielleicht war das auch besser so. Wie seine Probleme in der vergangenen Nacht so klar gezeigt hatten, war er in Ketten und umgeben von Wärtern vielleicht sicherer, als wenn er auf eigene Faust durch die Stadt gepirscht wäre. Besonders in Anbetracht der königlichen Gardesoldaten, die überall rings um das große Haus anzutreffen waren.
»Da sind wir«, sagte der Wachhauptmann zu Tan, als sie vor einer schmalen schlichten Tür in einem einfachen fensterlosen Gebäude anhielten. »Wie ich sehe, hatten wir also doch genug Krähen dabei – und zwei oder drei Wärter hätten letztlich doch ausgereicht.«
»Es sei denn, die demonstrierte Stärke hat meine Feinde abgeschreckt«, deutete Tan höflich an. »Hochverehrter Hauptmann.«
Der Hauptmann musterte ihn unverwandt einen Augenblick lang. Dann streckte er seine mächtige Hand aus und schob die Tür auf, die nicht verschlossen war. Er ließ die Hälfte der Wärter und sämtliche Krähen draußen zurück. Die anderen traten ein und gingen einen kahlen Flur entlang, bis sie schließlich ein schmuckloses Empfangszimmer erreichten, dessen Einrichtung nur aus einem kleinen Tisch und einem einzelnen Stuhl bestand.
Der Stuhl war besetzt. Bertaud, Sohn von Boudan – so vermutete Tan –, blickte auf. Sein Blick war konzentriert und misstrauisch, aber im Grunde nicht feindselig, wie Tan fand. Zumindest noch nicht. Der junge Mann, den Tan am Hof in Tihannad kennengelernt hatte, war zu einem kräftig gebauten, selbstbewussten Fürsten herangewachsen. Er sah inzwischen seinem Vater recht ähnlich, was ihn sicherlich sehr ärgerte. Seine Augen wiesen eine interessante Tiefe auf, und Falten, an die sich Tan nicht erinnerte, prägten die Mundpartie. Tan fragte sich, wie Bertaud diese zwingende Ausstrahlung entwickelt hatte.
Tan sank vor ihm auf ein Knie, stützte die gefesselten Hände auf das andere und senkte kurz den Kopf. Dann hob er ihn wieder und blickte in Bertauds Gesicht. Ihre Augen begegneten sich. Bertauds Blick wirkte erst suchend, dann neugierig. Er holte Luft und wollte offenbar zu reden beginnen.
Ehe er jedoch dazu Gelegenheit fand, sagte Tan rasch: »Haar, dunkler als Eures. Länger als Eures, zurückgebunden mit einer schlichten Schnur. Zehn Jahre jünger, vierzig Pfund mehr und keinerlei Stilgefühl. Ein Ring an meiner linken Hand …«
»Ein Beryll«, unterbrach ihn Bertaud. Er setzte sich aufrechter und runzelte die Stirn. »Eingefasst in einen schweren Eisenring. Ihr wart vor meiner Zeit.« Womit er meinte, ehe Iaor ihn zum Kommandeur der eigenen Garde berufen hatte. »Ich habe Euch in Moutres’ Gesellschaft gesehen.« Fürst Moutres hatte diese Vertrauensposition unter Iaors Vater eingenommen und dann einige Jahre lang noch bei Iaor.
Bertaud stand auf und trat vor, um sich Tan genauer anzusehen. »Wie seid Ihr hierhergekommen?«
»Äh …« Tan zögerte. Vorsichtig fragte er: »Wisst Ihr … was ich für, äh, Moutres gemacht habe?«
Bertaud runzelte erneut die Stirn. »Nicht im Detail.«
»Der König weiß es …«
»Seine
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