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DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

Titel: DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Neumeier
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Jahr hatte er sich stark verändert. Im vergangenen Jahr war er unvermittelt größer geworden als Maianthe. Obgleich er nun ausgewachsen war, wirkte er noch immer so steif und unbeholfen wie einer der Störche, die auf den Dächern der Stadt nisteten. Die Hände schienen zu groß für die knochigen Handgelenke; die Ellbogen standen seitlich hervor, und nicht selten stieß er gegen Möbel und ließ Teller fallen. In diesem Jahr schien sein ganzes Wachstum in die Muskeln gegangen zu sein. Er war massiger geworden und hatte Gewicht auf die Knochen bekommen, und er sah inzwischenwie ein junger Mann aus und überhaupt nicht mehr wie ein Knabe.
    Im Hochsommer würde er, drei Wochen vor Maianthes Geburtstag, neunzehn und im Jahr darauf zwanzig werden und dann nach Hause zurückkehren. Maianthe dachte nicht gern daran. Sie war fast sicher, dass ihm sein Vater nie erlauben würde, nach Farabiand zurückzukehren. Und sie war beinahe genauso überzeugt, dass ihr Vetter Bertaud, der das Delta überhaupt nur ungern verließ, es nie wieder nötig fände, Casmantium zu besuchen.
    Sie konnte Bertaud fragen, ob sie vielleicht den Haushalt des Königs begleiten durfte, wenn dieser Tiefenau verließ. Das würde Erich gefallen – und es würde vor allem ihr gefallen. Jedenfalls glaubte sie das. Es sollte eigentlich so sein. Vielleicht ließ Bertaud sie ja gehen, auch wenn er sich selbst weigerte, das Delta zu verlassen. Sie wollte ihn um Erlaubnis ersuchen – zumindest fand sie, sie sollte sich wünschen, ihn zu fragen. Aber irgendwie fühlte es sich nicht richtig an, den König auf seiner Rundreise zu begleiten. Noch vor etwa einem Tag hatte sich Maianthe richtig danach gesehnt, nach Norden zu reisen, und jetzt tat sie es nicht mehr. Das eine Gefühl ergab so wenig Sinn wie das andere!
    Wahrscheinlich war es nur der Frühling, der sie so ruhelos machte. Wahrscheinlich lag es an den Schwalben, die ihre Bahnen über den Himmel zogen und dann nach Norden zum höher gelegenen Land flogen, in dem sie nisteten.
    Sie ertappte sich dabei, die Ablenkung zu genießen, die der erstaunliche neue Gast ihres Vetters bot. Sie stellte sogar fest, dass sie von Anfang an Sympathie für ihn verspürte – auch wenn sie ihn nur bei diesem ersten angespannten Gespräch erlebt und er eindeutig ihre Anwesenheit dort nicht gewollt hatte. Sie mochte ihn und war froh, dass er sicher in das große Hausgelangt war, ungeachtet des Widerhalls von Gewalt und Furcht, den er mitbrachte. Und natürlich war es ein Glücksfall, dass er ins Delta gekommen war, da er so den König viel schneller gefunden hatte, als wenn er den Weg nach Tihannad eingeschlagen hätte.
    Tan besaß die Ausstrahlung, dass er wirklich gelebt und die Welt gesehen hatte. Das gefiel Maianthe, schon bei dem kurzen Eindruck, den sie von ihm gewonnen hatte. Ihr hatte der leicht spöttische Zug um seine Mundwinkel gefallen, als er sagte: Ich habe ein gutes Gedächtnis. Ihr hatte das Selbstvertrauen gefallen, das er im Gespräch mit dem König und ihrem Vetter an den Tag legte, obwohl er eindeutig erschöpft und vielleicht sogar ein wenig angsterfüllt gewesen war.
    Wäre sie ihm zufällig in der Stadt begegnet, hätte sie nie gedacht, dass er tatsächlich aus Farabiand war. Er sah durch und durch nach einem Linulariner aus, was ihm zweifellos bei seiner … Arbeit sehr zustatten gekommen war. Man erwartete beispielsweise von Casmantiern, dass sie eine breite, kräftige Statur hatten und geschickt mit den Händen waren. Manche Handwerker in der Stadt waren Casmantier, und man erkannte sie schon aus einer Meile Entfernung und bei Fackellicht, wie das Sprichwort lautete. Die Menschen aus Linularinum waren dagegen nicht ganz so auffällig: Sie kamen mit einem Talent für Vertragsrecht und einer Neigung zur Dichtkunst im Blut auf die Welt und zeichneten sich durch glattes braunes Haar und förmlich wirkende Gesichtszüge aus. So erzählten es sich jedenfalls die Leute. Am Fluss fand man viele Menschen von gemischter Herkunft, besonders im Delta. Aber Tan sah nicht danach aus, als stammte er aus einer gemischten Familie. Tatsächlich entsprach er haargenau Maianthes Vorstellung von einem Linulariner Rechtskundigen, außer dass er nicht so alt und steif war wie die meisten von ihnen. Außerdem warer freundlicher. Und seltsamerweise weniger geheimnistuerisch.
    Na ja, das lag wiederum wahrscheinlich daran, dass er Spion war. Er konnte vermutlich freundlich, herzlich und ehrlich wirken, egal was er

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