DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
wirklich ängstlich war, wohl aber wachsam.
Bertaud stand ebenfalls regungslos da. Maianthe dachte, dass er sich wohl von seiner Verblüffung erholt hatte, sich jedoch dagegen wappnete, eine Nachricht zu vernehmen, die ihn nicht freuen würde. Schließlich fragte er: »Wie lautet diese Antwort?«
»Der Wall wurde durchbrochen«, erwiderte der Greif. Dann war er wieder still und blickte Bertaud an.
Bertaud verstand offensichtlich sehr gut, was das bedeutete. »Tehres Wall?«, sagte er. Es war keine Frage, sondern eindeutig ein Ausruf der Bestürzung. »Wie?«
»Ich weiß es nicht – es hätte tausend Jahre lang stehen sollen, dieses Schaffenswerk«, antwortete der Greif – Kairaithin, Anasakuse Irgendwas Kairaithin. Woher kannte ihr Vetter überhaupt diesen Namen? Oder überhaupt den Namen irgendeines Greifen?
»Das hatte ich auch erwartet«, erklärte Bertaud.
»Ja. Etwas hat das Gleichgewicht gestört, das eigentlich hätte sicher sein müssen. Der Wall ist an zwei Stellen aufgebrochen – im Osten, wo sich hoch in den Bergen der See ausbreitet, und zudem im Hochgebirge des Westens, unweit der Stelle, wo der Zufluss des Niambesees entspringt.«
Bertaud trat einen Schritt weit vor. »Liegt also ein Problem mit der wilden Magie vor? Wirkt sie sich auf das Zauberwerk aus?«
Kairaithin deutete mit einer knappen Geste an, dass er keine Ahnung hatte. »Vielleicht. Die wilde Magie hat jüngst gebebt, ja. Etwas hat sie aufgestört. So fühlte es sich für mich zumindest an, als ich meine Bahn durch große Höhen zog. Warum jedoch haben sich sowohl die wilde Magie als auch die Magie der Schaffenden, die in den Wall eingewebt ist, in diesem Frühling verändert – genau zum jetzigen Zeitpunkt?« Er unternahm keinen Versuch, die eigene Frage zu beantworten, sondern stand unbewegt da und betrachtete Maianthes Vetter.
»Also bist du zu mir gekommen …«, folgerte Bertaud und sprach nicht weiter. Eine Erwartung schwang in dieser Stille mit. Er wartete … Er erwartete etwas von dem Greifenmagier. Etwas Bestimmtes. Etwas, dachte Maianthe, das er im Grunde nicht empfangen, hören oder wissen wollte. Und der Magier erwartete seinerseits etwas von ihrem Vetter.
»Zweimal hast du mir mit meinem Versagen in den Ohren gelegen, als ich dich nicht vor einem heraufziehenden Sturm warnte«, sagte Kairaithin. »Diesmal halte ich es für das Beste,wenn du weißt, was kommt. Der Wind, der jetzt heraufzieht … er wird grausam sein. Sollte der Wall nicht halten – und ich erwarte nicht, dass er hält –, wird mein Volk in einem Sturm aus Feuer über das Land der Erde kommen.« Weder Entschuldigung noch Bedauern schwang in seinem Ton mit, als er diese Worte sprach. Er stellte es einfach fest. Eine seltsame Beklommenheit verbarg sich jedoch hinter der grimmigen Gleichgültigkeit des Tons. Er fürchtete sich vor dem, was Bertaud vielleicht sagte oder tat, wurde Maianthe klar. Sie blinzelte; das alles begriff sie ganz und gar nicht. Sie verstand nicht, warum ein Greif und Feuermagier – der so mächtig war, dass er Menschengestalt annehmen und aus der Luft und dem Licht eines Sonnenuntergangs heraus zum Vorschein kommen konnte – sich vor irgendjemandem fürchten sollte. Ganz gewiss nicht, warum er sich ausgerechnet vor ihrem Vetter fürchten sollte!
»Warum sollte es das tun?«, fragte Bertaud. »Wie kann es das tun? Vor sechs Jahren hast du mir erklärt, dass dein Volk, wenn es ohne Erbarmen gegen meines kämpfen sollte, selbst vernichtet würde. Inwiefern hat sich das geändert? Mal abgesehen von dem, was … was es vielleicht daran hindern könnte. Du hast den anderen Greifen nicht davon erzählt?«
»Nein, und ich wage es auch nicht«, entgegnete Kairaithin scharf. »Alles, was ich dir vor sechs Jahren erklärt habe, ist noch immer wahr. Abgesehen von einer Sache: Mein Volk zählt inzwischen die Feuermagierin Kereskiita Keskainiane Raikaisipiike zu seinen Schätzen. Kes. Meine Kiinukaile Opailikiita Sehanaka Kiistaike ist nach wie vor ihre erste Iskarianere, aber Kes hat Tastairiane Apailika als zweiten Iskarianere angenommen.«
»Tastairiane?«, rief Bertaud und zuckte angesichts eines Namens zusammen, den er offenkundig kannte.
»Genau der. Kes hat ihre Macht vollständig entwickelt. Sie ist grimmig geworden und hat die Erde vergessen, aus der siegerissen wurde. Sie ruft nach einem Wind des Feuers und strahlenden Tag des Blutes, und wiewohl ich meine Stimme gegen sie erheben würde, so habe ich doch keine
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