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DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

Titel: DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Neumeier
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eingebildet hatte.
    Hinter ihr stieß Bertaud einen Laut aus, der eine außergewöhnliche Mischung aus Verblüffung, Sehnsucht, intensiver Freude und Zorn darstellte.
    Sie drehte sich um. Ein Mann hatte sich zu ihnen ins Sonnengemach gesellt. Ein Fremder. Er war viel älter als Maianthe – älter als Bertaud, dachte sie, auch wenn sie nicht recht wusste, was sie zu dieser Ansicht brachte. Das schwarze Haar enthielt keine grauen Strähnen, und die Augen wirkten alterslos, aber Maianthe war sicher, dass er in Wirklichkeit viel älter war, als er aussah. Er hatte ein herbes, stolzes Gesicht und machtvolle, tiefliegende schwarze Augen. Seine Kleidung war teils schwarz, teils von einem Rot, das so dunkel wie ersterbende Kohlenglut war.
    Und sein Schatten wirkte seltsam. Das lag nicht nur am flackernden Licht der Lampen. Der Schatten selbst flackerte von Feuer; er bestand aus Feuer und besaß Augen, die so schwarz wie die des Mannes waren, der ihn warf. Und er wies die falschen Umrisse auf – überhaupt nicht die eines Menschen. Doch Maianthe wusste nicht zu sagen, was für eine Gestalt einen solchen Schatten werfen konnte. Erneut wich sie unwillkürlich einen Schritt zurück und erwartete schon, dass die Läufer und Gardinen und das polierte Holz im Sonnengemach in Flammen aufgingen. Der Schatten schien seine Flammen jedoch in sich zu behalten, und nichts anderes brannte. Dann drehte der Fremdeden Kopf und betrachtete Maianthe mit einer seltsam gleichgültigen Form von Neugier. Sie stellte fest, dass seine Augen zwar schwarz, aber ebenfalls von Feuer erfüllt waren. Sie erwiderte den Blick und hatte das Empfinden, von Erschrecken und Entsetzen an Ort und Stelle gebannt zu sein wie ein Hase im Schatten eines Falken.
    Bertaud trat einen Schritt vor. Mit scharfer Stimme sagte er: »Kairaithin. Anasakuse Sipiike Kairaithin. Warum erscheinst du hier?«
    Der Fremde wandte ihm seine Aufmerksamkeit zu, und für Maianthe ging der Augenblick vorüber, in dem sie unter dem seltsamen Bann stand.
    Hinter dem scharfen Tonfall hatte Bertauds Stimme gebebt. Nicht jedoch vor Entsetzen, dachte Maianthe. Welch starkes Gefühl auch immer ihren Vetter gepackt hatte, es war nicht Furcht. Auch hatte Bertaud sich nicht bewegt: Er hatte zum Beispiel keinerlei Anstalten gemacht, sich schützend vor sie zu stellen. Er beachtete sie überhaupt nicht. Statt sich verletzt oder missachtet zu fühlen, empfand Maianthe das als beruhigend. Der Mann, der Magier – wer auch immer er war, er musste ein Magier sein, obwohl sie noch nie von einem Magier gehört hatte, der einen Schatten aus Feuer warf –, konnte nicht so gefährlich sein, wenn ihr Vetter, der ihn eindeutig kannte, es nicht für nötig hielt, Maianthe vor ihm zu schützen.
    Bertaud wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern fuhr mit verändertem Tonfall fort: »Du siehst müde aus. Du wirkst … älter. Ist denn … Ist denn alles in Ordnung mit dir?« Seine Stimme war leiser geworden und der Zorn ersetzt durch … Sorge? Furcht? Maianthe wusste nicht recht, was das für ein Unterton war. »Hat es dich verletzt, den Wall zu überqueren?«, erkundigte sich Bertaud. Und anschließend fragte er: »Aber wie hast du das überhaupt geschafft?«
    Der Mann – der Feuermagier Kairaithin – legte den Kopf schief: eine irgendwie seltsame Haltung, bei der Maianthe an die Bewegung eines Vogels denken musste, denn sie verlief ähnlich schnell und unvermittelt. Maianthe bemerkte nun, dass Kairaithins Schatten der eines Vogels war – nur zu groß und mit Flammen gefiedert und nicht zur Gänze der eines Vogels. Sie blinzelte und erkannte schließlich, was für eine Kreatur einen solchen Schatten warf. Sie konnte gar nicht glauben, dass sie so lange für diese Erkenntnis gebraucht hatte. Das war kein Mensch – ganz und gar nicht. Er war ein Greif. Die Menschengestalt, die er trug, täuschte nur kaum darüber hinweg, und dies auch nur einen Augenblick lang.
    Der Greif erwiderte: »Die Antwort auf all deine Fragen ist stets dieselbe.«
    Seine Stimme war so unerhört nichtmenschlich wie sein Schatten: erbarmungslos wie Feuer und geprägt von einem seltsamen Timbre, als wären es Zunge und Kehle nicht gewöhnt, sich in einer normalen Sprache auszudrücken. Kairaithin stand ganz reglos und blickte Bertaud an. Nicht wie ein Falke einen Hasen musterte, dachte Maianthe, wusste dabei aber nicht recht, warum sie diesen Blick anders einschätzte oder weshalb sie glaubte, dass der Fremde … nicht

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