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DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

Titel: DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Neumeier
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den Wolken, die sich über dem Meer auftürmten und sich purpurn und golden vor dem leuchtenden Himmel abzeichneten. Karmesinrot schimmerten sie im Westen, wo die untergehende Sonne das Meer in Flammen setzte.
    Er erblickte Maianthe nicht sofort. Einen Moment lang betrachtete sie ihn schweigend. Das strahlende Licht hob die Fältchen an seinen Augenwinkeln und die tieferen Falten umdie Mundwinkel hervor. Er wirkte in diesem Licht älter – allerdings nicht wirklich älter. Er sah aus, dachte Maianthe, als ob Trauer oder eine schlechte Erinnerung in ihm geweckt worden wäre.
    Obwohl sie reglos dastand, musste er sie gehört haben, denn plötzlich wandte er ihr das Gesicht zu. Das goldene Licht des Sonnenuntergangs schien seine Augen mit Feuer zu füllen, und doch blieben sie hinter dem trüben Flammenschleier dunkel. Sogar freudlos. Manche der anderen Mädchen aus Maianthes Bekanntenkreis, die auch Epen liebten, hätten sofort eine Geschichte von Liebe und Verlust gesponnen, um diese Freudlosigkeit zu erklären. Maianthe dachte jedoch nicht, dass das, was sie sah, so einfach erklärt werden konnte. Sie wusste nichts vom unausgesprochenen Kummer ihres Vetters, und doch erkannte sie ihn irgendwie. Sie stand stumm im Eingang.
    Dann tauchte die untergehende Sonne weiter in das Meer hinein; der Winkel, in dem das Licht durch die Fenster fiel, veränderte sich, und der Augenblick verging.
    »Maianthe«, sagte Bertaud und stand auf, um sie zu begrüßen. Jetzt, wo er das Licht im Rücken hatte, waren seine Gesichtszüge nicht mehr zu erkennen.
    Obwohl Maianthe sorgsam darauf geachtet hatte, war für sie seinem Tonfall weder Trauer noch Einsamkeit zu entnehmen gewesen. »Tan ist wach geworden – hat Geroen das schon gemeldet?«, fragte sie. »Ich habe ihn besucht.« Sie hatte sich ein wenig gesorgt, dass ihr Vetter möglicherweise nicht damit einverstanden war; aber er nickte nur und forderte sie mit einer Handbewegung auf, sich auf einen Stuhl neben seinem zu setzen.
    »Was hältst du von unserem Spion?«
    »Oh …« Maianthe versuchte, eine Antwort zu finden. »Er ist recht charmant, wenn er möchte. Ich glaube, er muss ein guter Spion gewesen sein.«
    »Wahrhaftig. Ich vermute, er ruht sich jetzt aus? Gut so. Ich möchte heute Abend mit ihm reden. Oder möglicherweise möchte Iaor es. Oder vielleicht wir beide.«
    Armer Spion, dem sowohl der König als auch ihr Vetter drohend näher rückten!
    »Ich habe befohlen, dass sich einer von Geroens Männern jederzeit um ihn kümmert«, fuhr Bertaud fort. »Ich will, dass er noch ein paar weitere Tage lang bei uns bleibt; und ich denke nicht, dass ich diesem Mann unbedingtes Vertrauen schenken darf, was die Befolgung eines Befehls angeht, den er bequemerweise vergessen möchte.«
    Ihr Vetter lächelte beim letzten Satz, aber Maianthe hatte den Eindruck, dass er nicht wirklich belustigt war. Sie gelangte zu der Ansicht, dass er es nicht gewöhnt war, Zweifel an der Bereitschaft zu hegen, ihm zu gehorchen; außerdem gefiel es ihm nicht, einen solchen Zweifel zu spüren.
    Maianthe nickte und wollte etwas sagen, schwieg dann jedoch. Die Sonne war beinahe untergegangen, und ein letztes Feuerrot blitzte am flachen Horizont auf, wo sich Meer und Himmel begegneten. Von diesem fernen Leuchten abgesehen war die Welt dunkel geworden. Die Dunkelheit und die verborgenen Tiefen des Sumpflands breiteten sich hinter der Stadt aus; in größerer Nähe glommen die ersten Sterne auf und mischten sich mit dem wärmeren Schein der Laternen und Lampen auf den Straßen unterhalb des großen Hauses. Bertaud nahm eine Wachskerze vom Tisch und zündete sie an. Anschließend streckte er sich nach oben, um mit dem Licht die Lampen anzuzünden, die an Bronzeketten von der Decke hingen.
    Draußen vor den Fenstern des Sonnengemachs zeichnete sich unvermittelt eine Schwärze vor dem Himmel ab. Sie breitete sich zu einer gewaltigen Masse aus: kein Vogel, denn ein solches Tier wäre niemals so riesig gewesen, und gewiss auch keineWolke; dafür bewegte sich die Schwärze zu schnell und hatte zudem eine ganz andere Form. Maianthe hielt die Luft an und erwartete beinahe schon, die Schwärze würde gegen die Fenster prallen – Glassplitter schössen dann in alle Richtungen. In ängstlicher Erwartung wich sie zurück. Dann jedoch schrumpfte und verschwand die dunkle Gestalt wieder.
    Maianthe tat blinzelnd einen Schritt auf die Fenster zu und fragte sich, ob sie tatsächlich etwas gesehen oder es sich nur

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