DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
Hauptmann dann neben ihm auftauchte, brachte Tan genug Reste seiner Selbstbeherrschung und Vernunft auf und fragte: »Wie weit ist es bis zur Grenze? Wie schätzt Ihr die Gefahr ein, auf dem Weg dorthin der falschen Patrouille zu begegnen? Und sind dies hier alle Männer, die Ihr dabeihabt?«
Es waren neunzehn Mann, wie Tan wusste, da ein abgelegener Winkel seines Verstandes sie gezählt hatte. Neunzehn Mann und Bertauds kleine Cousine. Nicht die Art Truppe, von der er sich vorstellte, dass sie, sagen wir, einer Kompanie regulärer Linulariner Soldaten unter Istierinans Befehl standhalten könnte. Selbst wenn sie ein Recht auf den Versuch gehabt hätte, was auf dieser Seite des Flusses wohl nicht der Fall war.
»Nicht weit«, antwortete Geroen. »Zu weit jedoch, falls wir die falsche Art von Schwierigkeiten bekommen. Traut Ihr Euch einen Handgalopp zu?« Er musterte Tan scharf. »Vergesst meine Frage! Selbst ein Trab würde Euch im Nu aus dem Sattel werfen, das würde selbst eine blinde Krähe um Mitternacht erkennen.«
Tan konnte das kaum abstreiten. Er fragte sich, wohin und zu wem Istierinan geflohen war und welche Ressourcen ihm dort zur Verfügung standen. Und welche Chance sie selbst hatten, die Antworten auf all diese Fragen zu finden. Eine viel zu gute, fürchtete er.
Maianthe ritt zu ihm. Sogar im Dunkeln konnte jeder sehen, dass sie angespannt war: aufgeregt, besorgt, entschlossen, sehr jung und vor allem entschieden weiblich. Warum, warum, warum nur hatte Geroen sie mitgebracht? Falls sie auf reguläre Linulariner Soldaten stießen, würde diese sofort erkennen, dass Maianthe eine wichtige Person war. Die Linulariner Behörden hätten dann jeden Grund für die Annahme, das Delta hätte sie mit Absicht entsandt, um irgendeinem ruchlosen Vorhaben förmliche Autorität zu verleihen. Was wohl Bertaud sagte, wenn Tan und Geroen zu verantworten hatten, dass feindliche Soldaten seine Cousine auf der falschen Seite des Flusses aufgriffen?
Sie war jedoch noch immer sehr beherrscht und führte weiterhin den Lederranzen an einer Schulter mit, wie Tan erleichtert feststellte. Sie sagte zu Tan, wenn es auch vor allem für Geroens Ohren bestimmt war: »Tan, ich steige hinter Euch auf.« Als der Hauptmann dagegen protestieren wollte, erklärte sie ihm rasch: »Nein, das ist nur sinnvoll! Ich kann ihn vom Herunterfallen bewahren und bin als Einzige hier so leicht, dass uns das Pferd auch zu zweit noch schnell vorwärtstragen kann. Wir kommen so rascher voran. Und wenn Ihr nur ein Pferd zu beschützen habt statt zwei, macht das dann nicht alles einfacher – falls, nun ja, falls …?«
Das tat es zweifellos. Obwohl Tan auch eine unangenehme Vision hatte, wie das Pferd im falschen Augenblick strauchelte und sie beide stürzten: das Zweifache der Katastrophe, die sonst eingetreten wäre. Allerdings …
»Dann steigt hinüber«, sagte Geroen barsch. Tan wusste nicht, ob der Hauptmann ebenfalls an einer zu lebhaften Vorstellung litt. In schlechter Stimmung schien er so oder so zu sein.
Maianthe glitt von ihrem Pferd auf das Tans, ohne abzusteigen. Sie saß dicht hinter ihm, stützte seine Schenkel mit ihren und legte die kleinen Hände fest auf seine Hüften. Sofort fühlte er sich viel sicherer im Sattel. Die Gangart des Pferdes wurdeauch glatter, als das Tier den festen Sitz des zweiten Reiters spürte. Unter anderen Umständen hätte Tan es genossen, dass das Mädchen hinter ihm saß. Er suchte nach einem passenden Zitat für eine solche Situation – er wusste, dass es eines gab –, aber die Qual, die von seinem Knie ausstrahlte, ruinierte nicht nur sein Gedächtnis, sondern stellte auch sehr entschieden sicher, dass er keine anstößigen Gedanken über Fürst Bertauds Cousine entwickelte.
Geroen winkte, und das Pferd ging in einen leichten Galopp über und folgte dabei einer Straße, die sie kaum sehen konnten. Sie mussten darauf vertrauen, dass die Pferde wussten, wohin sie die Hufe setzten.
»Es ist nicht weit bis zum Fluss«, erklärte Maianthe Tan. Sie schrie nicht wirklich, aber die nervöse Anspannung führte dazu, dass sie viel lauter sprach als nötig. Das war auch nur gut so, denn Tan neigte dazu, Wörter und Wendungen inmitten der Schmerzwellen zu überhören, die ihn heimsuchten.
Tan war überzeugt, dass sie noch vor dem Fluss einer Kompanie Linulariner Soldaten begegnen würden. Doch das geschah nicht. Es verblüffte ihn, bis ihm wieder einfiel, dass Istierinan mit einem Pfeil im Rücken
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