DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
persönliche Geheimnisse verriet – erst recht die Geheimnisse anderer.
Maianthe nickte, wirkte aber unaufmerksam, als hätte sie ihn kaum verstanden. Dann erklärte sie: »Man rechnet schließlich damit, dass Menschen ein eigenes Leben geführt haben, ehe man ihnen begegnet ist!« Sie stand auf, schritt rasch durch das kleine Zimmer und kehrte wieder zurück.
»Manchmal erschrickt man jedoch, wenn man etwas aus diesem zurückliegenden Leben erfährt«, deutete Tan an. Er konnte sich nicht vorstellen, was geschehen war. Etwas, das mit ihr zu tun hatte? Mit ihm? Mit jemand anderem?
»Ja, so ist es! Ich weiß genau, dass mein Vetter irgendetwas Bestimmtes getan hat, damit wir aufhörten, gegen die Greifen zu kämpfen. Und dann noch etwas anderes, als er in Casmantium war. Ich weiß jedoch …« – sie warf heftig die Hände hoch, um ihre Worte zu unterstreichen – »... gar nichts! Wisst Ihr etwas darüber? Vor allem etwas über den Wall? Ich meine den Wall in Casmantium, den zwischen den Greifen und … allen anderen?«
»Wir haben natürlich Berichte erhalten.« Tan betrachtete sie sorgsam und versuchte sich auszumalen, was diese Fragen hervorgerufen hatte. »Jene Ereignisse vor sechs Jahren waren am Hof des Fuchses Gegenstand mancher Spekulation, glaube ich. Ich war noch nicht … Ich war gerade erst in jenem Jahr in Teramodian eingetroffen und konzentrierte mich ganz darauf, einen Platz bei Hofe zu bekommen. Ich hätte erwartet, die Menschen im Delta würden die Handlungen ihres Fürsten viel aufmerksamer verfolgen als selbst der interessierteste Ratgeber des alten Fuchses.«
»Ich war erst zwölf«, merkte Maianthe an, aber diese Worte waren nicht wirklich an ihn gerichtet.
»Was ist passiert?«, fragte Tan geduldig.
»Oh … dieser Greif kam meinen Vetter besuchen. Hat Euch irgendjemand davon erzählt?«
Tan verschlug es ausnahmsweise mal die Sprache. Was immer er erwartet hatte, von der jungen Frau zu hören – das sicherlich nicht. Er räusperte sich, sprach dann jedoch kein Wort, sondern bat sie nur mit einer matten Geste fortzufahren.
»Niemand? Na ja, Ihr hattet den ganzen Tag lang geschlafen,sagtet Ihr, und ich vermute, alle dachten, man sollte Euch nicht beunruhigen.« Sie warf ihm einen besorgten Blick zu.
»Hört jetzt nicht auf!«, sagte Tan und lachte. »Das würde mich beunruhigen!«
»Oh … ja, das vermute ich auch.« Maianthe lächelte ebenfalls. »Jedenfalls war es so. Ein Greif. Ein Magier. Ein Greifenmagier, meine ich. Er trug die Gestalt eines Menschen, aber … Ich wusste gar nicht, dass Greifen das können. Nicht mal von ihren Magiern hätte ich das geglaubt. Nicht, dass man ihn für einen normalen Menschen hätte halten können. Anasa … Ich erinnere mich nicht an den ganzen Namen. Irgendwas Kairaithin.«
»Ein Greifenmagier.« Nur lange Übung ermöglichte es Tan, nicht mit der Stimme zu verraten, wie schwer es ihm fiel, das zu glauben.
»Ja. Oh, ja. Er war sehr … Er war es, das konnte man feststellen. Er half meinem Vetter vor sechs Jahren, und er half auch dabei, den casmantischen Wall zu errichten. Ich denke«, setzte sie hinzu, und darin schwang schon etwas Zweifel mit, »ich denke, dass er meines Vetters Freund ist, aber …«
»Aber er ist nicht einfach der Greifenwüste entschlüpft, um Eurem Vetter einen guten Abend zu wünschen.« Tan gab ihr ein Stichwort, als deutlich wurde, dass sich die Unterbrechung vielleicht in die Länge ziehen könnte.
»Nun, ich denke, er kam, um Bertaud davor zu warnen, dass der Wall bersten würde«, sagte Maianthe schlicht, als entspräche es ihrer Gewohnheit, fortwährend erstaunliche Informationen auf die beiläufigste Art und Weise mitzuteilen.
»Ah.« Tan hatte diese Neuigkeit ganz und gar nicht kommen sehen. Er versuchte, sich an all das zu erinnern, was er jemals über den großen Wall in Casmantium gehört hatte. Er wusste, dass sich einige casmantische Schaffende und Magier zusammengetan und den Wall im Verlauf eines Tages, einer Nacht und eines weiteren Tages errichtet hatten – oder so zumindest wurde das Wunder dieser Konstruktion vermeldet. Er wusste, dass dieser Wall das Land des Feuers für immer vom Land der Erde hatte scheiden sollen … Wenn er richtig verstand, hatte sich das »für immer« als leicht übertrieben herausgestellt.
»Er hat behauptet, das … das Gleichgewicht wäre gestört worden. Zwischen der Erde und dem Feuer, sagte er. Er hat berichtet, der Wall hätte … hätte Risse
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