DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
bekommen. An beiden Enden, denke ich, wollte er damit sagen. Wenn der Wall zerbricht, wird etwas Schreckliches geschehen, und er meinte, das würde in wenigen Tagen oder wenigen Wochen eintreten …« Maianthe wurde lauter.
»Aber nicht heute Abend, hoffe ich«, sagte Tan in absichtlich trockenem Ton, um jeder einsetzenden Hysterie zu begegnen. »Und was hat Euer fürstlicher Vetter in dieser Hinsicht unternommen?«
»Oh, er und der König sind nach Norden geritten, um sich den Wall oberhalb von Tihannad anzusehen, wisst Ihr …«
»Natürlich.« Das erklärte, warum der Fürst seine Cousine nicht daran gehindert hatte, sich dem kleinen Überfallkommando nach Linularinum anzuschließen. Tan vermutete, dass sich somit die Warnung des Greifen als Glücksfall für ihn erwiesen hatte, wenn schon nicht für irgendjemanden sonst. Vorsichtig fragte er: »Wodurch wurde das Gleichgewicht gestört? Hat dieser Greif das erklärt? Und was für eine schreckliche Sache wird passieren, falls der Wall bricht?«
Maianthe schüttelte den Kopf und brachte damit zum Ausdruck, dass sie es nicht wusste. »Ich denke nur, dass die Greifen sehr wütend sind, und ich denke, sollte der Wall brechen, kommt es zum Krieg …«
»Na ja, wie viele Greifen mag es wohl geben?«, fragte Tan nüchtern. »Es ist schwer, sich vorzustellen, dass es mehr als einen relativ geringfügigen Krieg geben könnte.«
Maianthe schüttelte erneut den Kopf. »Ich weiß nicht … Ich glaube nicht, dass er das gemeint hat.«
War der Besucher ihres Vetters wirklich ein Greif gewesen? In Menschengestalt, hatte Maianthe erklärt. Man hätte ihn jedoch nicht für einen normalen Menschen halten können, hatte sie hinzugefügt. Warum nicht? Wie konnte man das erkennen? Besonders, wenn man noch nie zuvor einem Greifen begegnet war, weder in seiner wahren Gestalt noch einer Tarnform?
Andererseits hatte allen Berichten zufolge Maianthes Vetter wirklich eine große Rolle bei den Problemen gespielt, die Farabiand vor sechs Jahren mit den Greifen gehabt hatte. Sicherlich würde er einen Greif erkennen, wenn ihm einer begegnete. Und falls irgendjemand einen Greifenmagier an seiner Türschwelle antraf, dann wahrscheinlich Bertaud.
Und wenn das alles stimmte … Schließlich sagte Tan: »Na ja, hochverehrte Maianthe, Ihr habt mir ganz gewiss eine Menge Stoff für meine Gedanken gegeben.« Diese Aussage war nicht gelogen.
»Aber Ihr wisst nichts darüber.«
»Sehr wenig«, räumte Tan ein. »Zumindest sehr wenig über Greifen. Es ist erstaunlich, wie selten dieses Thema in Linularinum zur Sprache kommt – außer bei Erörterungen darüber, was der König von Casmantium womöglich unternimmt.«
Maianthe ließ vor Enttäuschung leicht die Schultern hängen.
»Bitte stürmt trotzdem nicht hinaus«, bat Tan rasch, denn er fürchtete, sie könnte das tun. »Vielleicht erzählt Ihr mir, was Ihr alles über Greifen wisst. Fürst Bertaud ist Euer Vetter. Vielleicht habt Ihr ein wenig mehr von ihm gelernt, als Ihr selbst denkt …«
»Nein, das glaube ich nicht. Er spricht niemals über diese Dinge.« Maianthe zögerte und setzte dann langsam hinzu: »Dashat er nie. Nie. Ich denke …« Sie brach ab; möglicherweise hatte sie den Eindruck, sich zu sehr vertraulichen Themen genähert zu haben. Unvermittelt breitete sie die Hände aus, während sie mit den Achseln zuckte, und starrte dann auf die Handflächen, als fände sie dort womöglich die Antwort. Dann blickte sie auf. »Aber … Es tut mir so leid! Hier erzähle ich Euch von Greifen und dem Wall, obwohl keiner von uns etwas im Hinblick auf die Schwierigkeiten dort tun kann. Wie geht es Euch eigentlich? Geht es Euch gut?«
»Nun«, erwiderte Tan, der sich bemühte, nicht zu lachen. »Ich bin hier und nicht in einer düsteren Scheune auf der anderen Seite des Flusses angekettet. Also geht es mir nicht nur sehr gut, sondern ich muss auch davon ausgehen, dass niemand die Barrieren Eurer Fürsorglichkeit für mich durchbrechen konnte. Wofür ich, das versichere ich Euch, wirklich sehr dankbar bin. Ich hoffe, wir werden nicht so sehr von diesem anderen Problem abgelenkt, dass sich Istierinan erneut eine Lücke bietet.«
»Oh, ich bin sicher, dass Linularinum nicht …«
Tan tat diese Zusicherung mit einer Handbewegung ab. »Offenkundig war ein Magier nötig, um mich aus diesem Haus zu holen. Ich bin nicht so zuversichtlich, was dieser Magier womöglich als Nächstes unternimmt, falls Istierinan darauf beharrt.
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