DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
anbetraf.
»Und die kleine Kes hat sich mit ihm angefreundet?«
»Angefreundet« war nicht ganz das treffende Wort, und obwohl Kes alles andere als groß war, hätte niemand, der ihr heute begegnete, in annähernd diesem Tonfall von der »kleinen Kes« gesprochen. Doch Jos antwortete lediglich: »Ja«, denn auch das entsprach der Wahrheit, soweit es darauf ankam. Er fuhr fort: »Sie und Tastairiane teilen miteinander den Ehrgeiz, die Wüste wachsen zu sehen, denke ich, und verachten in gleicher Weise das gesamte Land der Erde. Den Wall zu errichten, das war einegute und kluge Entscheidung …« Und wie gern wäre er damals zugegen gewesen, um diese spektakuläre Errungenschaft entstehen zu sehen! »Aber jetzt, wo er Risse entwickelt, wird er nicht mehr lange halten, jedenfalls nicht, wenn Feuermagie durch ihn hindurch gegen die Erdmagie der anderen Seite gerichtet wird. Weiß jemand, was die Risse überhaupt ursprünglich hervorgerufen hat?«
König Iaor schaute Bertaud an, der wiederum Kairaithin ansah. Der Greif sagte nichts; nur das Gefieder im Nacken sträubte sich leicht und legte sich dann wieder flach an. Bertaud wandte den Blick unbehaglich ab und berichtete: »Wir haben darüber gesprochen. Wir haben einen Erdmagier dabei, der jedoch strenge Anweisung hat, sich zu beherrschen. Sein erster Gedanke jedoch war, ob nicht die wilde Magie dieser Berge – mit gewöhnlicher Erdmagie im Bunde, aber kein Bestandteil von ihr – möglicherweise der Zauberkraft entgegenwirkt, die im Wall eingeschlossen ist.« Er räusperte sich und setzte für Kairaithin hinzu: »Du könntest das mit ihm besprechen, falls ihr beide es ertragen könnt, äh, miteinander zu reden.« Er räusperte sich erneut, zog leicht den Kopf ein und schloss seine Ausführungen mit den Worten: »Wir haben eine Nachricht nach Casmantium geschickt. An den Arobarn und seine Magier und vor allem an Tehre Annachudran Tanschan.«
Die Dame Tehre war die casmantische Schaffende, die zusammen mit dem letzten überlebenden Kaltmagier Casmantiums den Wall errichtet hatte. Jos hatte eine kurze Schilderung dieser Ereignisse von Kairaithin erhalten, aber wirklich nur einen groben Überblick. Nach dem bedeutsamen Blick zu urteilen, den Bertaud dem Greifenmagier zuwarf, war sehr gut möglich, dass Kairaithin eine ganze Reihe von Einzelheiten nicht erwähnt hatte.
Natürlich habt ihr das, sagte der Greif ohne jede Variation imTonfall der glatten, gefährlichen Stimme, die sich rings um das Bewusstsein seiner Zuhörer schlängelte. Ich werde mit dem Erdmagier reden, da er nun mal hier ist und vielleicht über ein Verständnis der Südwand des Walls verfügt. Aber falls dieses Schaffenswerk nicht standhält – damit meinte er natürlich den Großen Wall –, dann ist nur schwer vorstellbar, was casmantische Stärke noch bewirken könnte.
Dem konnte man schwerlich widersprechen, und lange blieben alle schweigsam.
»Nun …«, sagte schließlich König Iaor, blickte sich unter den anderen um und sah dann zum Großen Wall und den aufsteigenden Dampfwolken hinab, wo die Magie der Erde auf das ihr feindselige Feuer prallte, »zumindest sind wir jetzt hier, wo all diese Ereignisse vor unseren Augen ablaufen. Wir müssen dankbar sein, eine faire Warnung erhalten zu haben und damit eine Chance, uns vorzubereiten, andernfalls wären wir alle im Süden und hätten keine Ahnung davon, was womöglich über uns kommt, und keinerlei Gelegenheit, die Ereignisse zu beeinflussen.« Er blickte Kairaithin an. »Dafür sind wir dankbar. Und für jeden weiteren Beistand, denn Ihr uns vielleicht anbieten mögt.«
Der Greif entgegnete darauf nichts.
Nach einem unbehaglichen Augenblick wandte sich der König an Jos. »Wenn Ihr so gut sein möchtet … Ich denke, wir würden uns über die Gelegenheit freuen, weiter zu diskutieren – über Kes und Tastairiane Apailika …« – er stolperte nur ganz kurz über den Namen, der für eine menschliche Zunge so ungewohnt war – »... und über das, was Eurer Meinung nach drohen könnte, wenn der Wall bersten sollte.«
»Ja«, sagte Jos ohne Begeisterung. Er hatte keine Vorstellung von dem, was geschah, wenn der Große Wall zerbersten würde, oder was man tun könnte, falls es dazu kam. Gleichwohl fuhr er fort: »Ich habe nur wenig in meiner Unterkunft. Zumindestjedoch kann ich ein Feuer anbieten, und falls Kairaithin so freundlich wäre, Menschengestalt anzunehmen, passen wir auch alle in meine Hütte.« Wenn es gelang, die
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