Der Grenzgänger
die rechte Schulter. Unbemerkt hatte er sich von hinten genähert und grinste mich an, als ich mich zu ihm umgedreht hatte. „Wo ist die Diskette?“, fragte ich aufgeregt. Alles andere interessierte mich nicht.
Entschuldigend hob der Kommissar die Hände. „Die ist nicht mehr da. Es ist uns jemand zuvorgekommen.“
Ich sah ihn ungläubig an. „Das kann doch nicht wahr sein.“ Oder hatte mich der Tippgeber belogen?
Böhnke seufzte. „Ist aber wahr. Meine Kollegen haben in Fleischmanns Wohnung nach Ihren Angaben die Diskette gesucht. Sie muss wohl tatsächlich unter der Schublade geklebt haben. Aber als wir kamen, war sie weg. Wir fanden nur noch ein Stück Klebeband. Nach unseren Untersuchungen muss jemand vor weniger als zwei Tagen das Band abgerissen und die Diskette mitgenommen haben.“ Der Kommissar pustete durch. „Und nicht nur das. Der Unbekannte hat außerdem frische Hemden, Hosen und Pullover mitgenommen und benutzte zurückgelassen. Bei der Dreckwäsche handelt es sich eindeutig um von Fleischmann getragene Kleidung.“
Wieder einmal verstand ich überhaupt nichts mehr. Wer konnte die Diskette gestohlen haben? Wer wusste außer Fleischmann über das Versteck Bescheid? Hatte es überhaupt die Diskette gegeben? Aber wer sollte in der Wohnung herumgeturnt sein, wenn nicht Fleischmann selbst?
„Ich blicke nicht mehr durch“, bekannte ich und schaute Böhnke an. „Tot oder lebendig? Was ist mit Fleischmann?“
Der Kommissar gab sich sicher. „Das ist für mich keine Frage: Fleischmann ist tot.“
„Und das Telefonat? Und die Diskette? Und die Kleidung? Und der gestohlene Personalausweis? Was ist damit?“, hielt ich dagegen.
Böhnke verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die Langeweile ausdrücken sollte, mit der er aber seine Verlegenheit übertünchen wollte. „Das sind Indizien, mein Freund, mehr nicht, aber keine handfesten Beweise.“
„Die haben Sie?“
Böhnke lächelte nachsichtig. „Die glauben wir zu haben. Und ich bin davon überzeugt, dass Fleischmann nicht mehr unter den Lebenden weilt.“
„Und ich glaube das Gegenteil.“ Mehr aus Widerspruch als aus Überzeugung bezog ich die Gegenposition. „Sollen wir eine Münze werfen?“
„Wir werden es sehen“, meinte Böhnke gleichmütig. Er forderte mich auf, ihn zu begleiten. Die Krankenhausluft mache ihn krank, sagte er. „Ich habe Appetit auf eine gute Frikadelle. Kommen Sie mit?“
„Wohin?“
Der Kommissar drehte sich auf dem Absatz um und ging los. „Zu Schranz“, antwortete er.
Zögernd folgte ich ihm. Hoffentlich passte das Personal während meiner nicht genehmigten Abwesenheit gut auf meine Mandantin auf.
In einem kleinen Dorf auf halber Strecke zwischen Jülich und Erkelenz, dessen Namen ich nicht kannte und den ich auf der Stelle wieder vergaß, steuerte Böhnke abseits der Schnellstraße zielsicher eine Metzgerei in der Ortsmitte an, die eindeutig an den Schriftzügen und der Fassade als Filiale des Schranz-Imperiums zu erkennen war. „Hier hat alles angefangen“, erklärte mir Böhnke, während er den Wagen am Straßenrand parkte. „Von diesem Geschäft aus hat Schranz seine Expansion betrieben. Auch heute noch steht er hier hinter der Theke und bedient eigenhändig die Kundschaft.“ Der Kommissar sah sich kurz auf der leeren Straße um und schritt dann entschlossen auf das Geschäft zu.
Es war angenehm kühl und hell in dem Verkaufsraum. Die gläsernen Theken gaben den Blick frei auf die Fleischwaren, die appetitlich und ordentlich in Schalen dekoriert waren.
Ein jüngerer Mann trat höflich grüßend auf uns zu und fragte uns nach unseren Wünschen.
Auch wenn ich den Mann zum ersten Mal sah, konnte es sich nur um Schranz handeln. Selbstsicher sah uns der Mann Anfang oder Mitte dreißig, der in einen sauberen weißen Kittel gekleidet war, an.
Böhnke deutete auf die gebratenen Frikadellen in der Auslage, von denen er zwei bestellte. „Auf die Faust“, fügte er hinzu, „ich habe gehört, sie sollen sehr gut schmecken.“
Schranz nahm das Kompliment freundlich dankend an. „Qualität spricht sich eben herum“, meinte er souverän, während er uns die in leichter Klarsichtfolie verpackten Frikadellen reichte. „Ein Bekannter von Ihnen, ein Herr Fleischmann, hat Sie empfohlen“, sagte Böhnke, als er bezahlte.
Für einen Augenblick stutzte Schranz, dann schien er zu überlegen. „Kenne ich nicht“, sagte er überzeugt und reichte uns das Wechselgeld, das er
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