Der Gringo Trail: Ein absurd komischer Road-Trip durch Südamerika (German Edition)
nicht gewusst, ob Mark mich begleiten würde. Es war ein grauer und bewölkter Herbsttag in Nordlondon gewesen. Einige Arbeiter rissen vor meinem Haus die Straße mit Pressluft hämmern auf.
Es klingelte an der Tür. Melissa stand weinend auf meiner Tür schwelle. „Ich will mitkommen“, sagte sie. „Aber du weißt doch gar nicht, wo Ecuador ist“, warf ich ein. „Naja, es muss besser sein als hier.“ Melissa hatte ihre Gründe, London zu verlassen, und ihre Liebe zu mir war nur einer von vielen. Melissa war 33 – drei Jahre älter als ich – und wunderschön. Schöner (und gesünder) als ein Mensch mit ihrer Vergangenheit es verdient hatte. Sie sah zehn Jahre jünger aus, obwohl sie zehn Jahre älter hätte aussehen müssen. Sie war schlank und athletisch, hatte olivbraune Haut, langes braunes Haar und verführerische Mandel-Augen. Als halbe Chinesin und halbe Schottin strahlte sie mit ihrem eurasischen Äußeren eine tiefe Sinnlichkeit aus. „Rassisch gemischte Frauen sind immer am schönsten“, hatte sie mir gesagt. Sie war offen, freundlich und lachte gern, hatte einen naiven Charme und ein natürliches Lächeln. Ihre sonnigen Phasen wur den jedoch auch von Perioden unterbrochen, in denen sie sehr in sich gekehrt war. Dann zog sie sich für zehn Tage zur Meditation zurück; das war ihre Art, ihre traumatische Vergangenheit zu be wältigen. Melissa war nicht leicht zu verstehen. Wenn man ihre Lebens geschichte der Reihe nach erzählen würde, wäre sie schon ver wirrend genug. Aber die Art, wie sie Dinge erklärte, ergab nur einen Sinn, wenn man die Geschichte schon kannte. Als ich sie zum ersten Mal getroffen hatte, hatte sie sich gerade erst aus einer langen Beziehung und einer verwickelten Verbindung zu eine Kampfsportgruppe gelöst. „Naja, nicht wirklich Kampfsport.“
„Oh. Um was ging es dann?“ „Chi.“ „Cheese?“ „Ja, Chi. Es geht darum, die Zirkulation von Chi im Körper zu stimulieren.“ „Das muss ja ein richtiger Schmelzkäse sein.“ „Nein, nicht „Cheese“. Chi. C-H-I. Chi. Das ist das chinesische Wort für Energie. Man öffnet die Energiekanäle im Körper. In diesem Fall durch Bewegung. Das ist die Grundlage der gesamten chinesischen Medizin.“ Melissa erklärte, dass ihr letzter Freund mit all ihren Freun dinnen geschlafen hatte. Außerdem hatte sie mit ihrer Mutter und einem anderen Mann in einem Haus gelebt, die sich fürch terlich gestritten und geprügelt hatten. In der Zwischenzeit hatte sie bei einem brillanten und inspirierenden Lehrer Kampfsport trainiert, der sie im Dezember frühmorgens um 5 Uhr in den Park hinaus getrieben hatte, wo er sie stundenlang einen Stock schwingen ließ. Irgendwann fiel bei mir der Groschen. „Also, das ist jedes Mal dieselbe Person?“, fragte ich. „Wer ist dieselbe Person?“, fragte Melissa zurück. „Naja, der Typ, der bei deiner Mutter lebte. Hieß er Peter?“ „Ja.“ „Und dein Ex-Freund? Hieß er Peter?“ „Ja.“ „Und dieser Lehrertyp? Peter?“ „Ja.“ „Also ist das jedes Mal dieselbe Person?“ Melissa dachte einen Augenblick lang über diese Möglichkeit nach. „Naja … ich denke schon.“
Sie wirkte überrascht, als wäre ihr das jetzt erst klargeworden. Melissa war so unklug gewesen, Peter und ihre Mutter zu überreden, ein gemeinsames Haus in Chiswick zu kaufen. Nun steckten sie alle drei fest. Das Haus war voller Angelzeug und chi nesischer Medizin, die ihrer Mutter gehörte. Die Tiefkühltruhe war mit Madenknäueln und anderen Ködern vollgestopft. Wenn man den Kühlschrank öffnete, fand man eingemachte Innerei en von Fledermäusen oder Froschhaut vor. Melissas Mutter und ihr Ex-Freund stritten die ganze Zeit und machten sich gegen seitig wahnsinnig, was Melissa dann natürlich auch wahnsinnig machte.
Ein ununterbrochener Strom von Peters bewundernden An hängern, diversen New Age Gurus, spirituellen Lehrern, bud dhistischen Mönchen und indischen Yoga-Meistern lief durchs Haus. Abgesehen von einem indischen Yogi, der jeden Morgen um vier Uhr aufstand, um vor Sonnenaufgang zu scheißen, und danach anscheinend kaum noch etwas tat, schienen die meisten spirituellen Lehrer ständig rumzubumsen. Melissa erklärte mir den New Age.
„Es ist wie bei Musikern und Groupies. Diese Leute haben je de Menge Charisma, Energie und Dynamik. Was sie sagen ist oft wirklich
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