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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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kaum Platz für andere Gedanken blieb –, beschloss ich, ihm einen Brief zu schreiben. Den schickte ich an seine Plattenfirma, die, wie sich herausstellte, in einem grünen Glasgebäude an der Ecke Park Avenue und Zweiundfünfzigste Straße logierte. Ich fuhr mit der U-Bahn hin und stand vor dem Haus, den Kopf in den Nacken gelegt, und schaute hoch, hoch, und fragte mich, wie hoch oben Bennies Büro wohl lag. Ich betrachtete noch immer das Haus, als ich den Brief in den davor angebrachten Briefkasten fallen ließ. Hey Benjo, hatte ich geschrieben (so hatte ich ihn immer genannt). Lange nicht mehr gesehen. Ich höre, Du bist jetzt ein gemachter Mann. Glückwunsch. Hätte keinem Besseren passieren können. Mit besten Grüßen, Scotty Hausmann.
    Er hat tatsächlich geantwortet! Sein Brief lag ungefähr fünf Tage später in meinem zerbeulten Briefkasten in der East Sixth Street, am Computer geschrieben, was vermutlich bedeutete, dass eine Sekretärin ihn getippt hatte, aber ich sah doch, dass er von Bennie stammte.
    Scotty, Baby – hey, danke für die Nachricht. Wo hast Du Dich denn versteckt? Ich denke noch immer manchmal an die Dildo-Tage. Ich hoffe, Du spielst nach wie vor Slide-Gitarre. Gruß, Bennie , mit seiner schiefen, kleinen Unterschrift über dem getippten Namen.
    Bennies Brief hatte ziemliche Wirkung auf mich. Die Dinge waren – wie sagt man? Langweilig geworden. Sie waren für mich öde geworden. Ich arbeitete als Hausmeister für die Stadt in einer Grundschule in der Nachbarschaft, und im Sommer sammelte ich im Park am East River bei der Williamsburg-Brücke Müll auf. Diese Jobs waren mir durchaus nicht peinlich, denn ich wusste, was sonst fast niemand zu kapieren schien: Es gibt nur einen mikroskopisch kleinen Unterschied zwischen der Arbeit in einem hohen grünen Glasgebäude in der Park Avenue und dem Müllaufsammeln im Park, einen so winzigen Unterschied, dass er fast nicht existiert, außer als Produkt der menschlichen Einbildungskraft. Vielleicht gab es sogar überhaupt keinen.
    Am nächsten Tag hatte ich zufällig frei – an dem Tag, nachdem Bennies Brief gekommen war – und ging deshalb am frühen Morgen zum Angeln an den East River. Das machte ich dauernd und aß die Fische sogar. Der Fluss war verdreckt, aber das Schöne daran war ja, dass man alles über diese Verschmutzung wusste, anders als bei dem vielen Gift, das man jeden Tag unwissentlich zu sich nahm. Ich angelte, und Gott muss auf meiner Seite gewesen sein, vielleicht hatte Bennies Glück auf mich abgefärbt, denn ich zog meinen besten Fang aller Zeiten aus dem Fluss: einen riesigen Streifenbarsch. Meine Angelfreunde, Sammy und Dave, kippten aus den Latschen, als sie mich diesen tollen Fisch fangen sahen. Ich tötete ihn, wickelte ihn in Zeitungspapier und trug ihn unter dem Arm nach Hause. Ich zog das von meinen Sachen an, was einem Anzug am nächsten kam: eine Khakihose und ein Jackett, das ich eigentlich ständig in die Reinigung brachte. Eine Woche zuvor hatte ich es noch in der Reinigungstüte abgeliefert, und das Mädel hinter der Theke wäre deshalb fast zusammengebrochen. »Warum soll reinigen? Sie schon sauber, Tüte nicht offen, Sie Geld verschwenden.« Ich weiß, ich komme gerade vom Thema ab, ich möchte aber noch hinzufügen, dass ich mein Jackett mit solcher Wucht aus der Plastikfolie riss, dass sie verstummte, während ich das Jackett vorsichtig auf den Ladentisch legte. »Merci por vous consideración, madame«, sagte ich, und sie nahm das Kleidungsstück schweigend entgegen. Ich möchte aber noch hinzufügen, dass das Jackett, das ich am Morgen meines Besuchs bei Bennie Salazar anzog, ein überaus sauberes Jackett war.
    Bennies Haus sah aus, als würden sie dort strenge Sicherheitskontrollen durchführen, wenn sie es für nötig hielten, aber an diesem Tag war das offenbar nicht der Fall. Mehr von Bennies Glück übertrug sich auf mich. Nicht, dass ich sonst so oft Pech anzog – ich würde von Neutralität sprechen, die sich gelegentlich zum Schlechten neigte. Ich fing zum Beispiel weniger Fische als Sammy, obwohl ich häufiger angelte und eine bessere Rute hatte. Aber wenn ich an diesem Tag an Bennies Glück teilhatte, bedeutete das, dass mein Glück auch sein Glück war? Versprach mein unerwarteter Besuch auch ihm Glück? Oder hatte ich es auf irgendeine Weise geschafft, sein Glück umzulenken, es für eine Weile abzuzapfen und ihn an diesem Tag ohne jegliches Glück sitzengelassen? Und wenn mir das

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