Der groesste Teil der Welt
Näherkommen wurde die Menge langsamer und staute sich, während die Vorderen sich um die reflektierenden Becken verteilten. Die Dichte von Polizei und Sicherheitsleuten (an ihren Regierungs-Smartpads zu erkennen) war plötzlich greifbar, hinzu kamen visuelle Scanner, die an Gesimsen, Laternenpfählen und Bäumen befestigt waren. Was hier vor mehr als zwanzig Jahren geschehen war, hatte für Alex noch immer Bedeutung, und immer, wenn er den Ground Zero erreichte, eine gewisse Präsenz. In seiner Wahrnehmung war es ein Klang gerade außerhalb der Hörweite, der Nachhall eines alten Störfalls. Jetzt kam es Alex beharrlicher vor denn je: ein tiefes dunkles Brummen, das ihm auf ursprüngliche Weise vertraut vorkam, als ob es in allen Tönen mitgeschwungen habe, die er im Laufe der Jahre erzeugt und gesammelt hatte: ihr verborgener Puls.
Rebecca umklammerte seine Hand, ihre schlanken Finger waren feucht. »Ich liebe dich, Alex«, sagte sie.
»Sag das nicht so. Als ob etwas Schlimmes bevorstehen würde.«
»Ich bin nervös«, sagte sie. »Jetzt bin ich auch nervös.«
»Das kommt von den Hubschraubern«, sagte Alex.
»Hervorragend«, murmelte Bennie. »Warte hier, Alex, wenn es dir nichts ausmacht. Da bei dieser Tür.«
Alex hatte Rebecca und Cara-Ann und ihre Freunde in einer Menge verlassen, die auf viele Tausend angewachsen war, und alle warteten geduldig - dann weniger geduldig -, als der Zeitpunkt, an dem das Konzert beginnen sollte, kam und ging, und sahen vier nervösen Roadies zu, die die Tribüne bewachten, auf der Scotty Hausmann spielen sollte. Nach einem T von Lulu, Bennie brauche Hilfe, hatte sich Alex in einem Spießrutenlauf aus Sicherheitschecks bis zu Scotty Hausmanns Wohnwagen durchgeschlängelt.
Drinnen kauerten Bennie und ein alter Roadie auf schwarzen Klappstühlen. Scotty Hausmann war nicht zu sehen. Alex’ Hals fühlte sich sehr trocken an. Bin unsichtbar, dachte er.
»Bennie, hör mir zu«, sagte der Roadie. Seine Hände zitterten unter den Manschetten seines karierten Flanellhemdes.
»Du kannst das«, sagte Bennie. »Vertrau mir.«
»Hör mir zu, Bennie.«
»Bleib bei der Tür, Alex«, sagte Bennie noch einmal, und er hatte recht - Alex hatte näher treten wollen, hatte fragen wollen, was zum Teufel Bennie sich hier einbildete: Wollte er diesen heruntergekommenen Roadie an Scotty Hausmanns Stelle auf die Bühne verfrachten? Sollte der Kerl sich gar als Scotty Hausmann ausgeben? Er hatte so eingefallene Wangen und so rote und knotige Hände, dass er aussah, als würde es ihm schon schwerfallen, eine Partie Poker zu spielen, ganz zu schweigen von dem seltsam sinnlichen Instrument, das man ihm zwischen die Knie geklemmt hatte. Aber als Alex’ Blick auf das Instrument fiel, durchfuhr es ihn plötzlich bis ins Mark: Dieser heruntergekommene Roadie war Scotty Hausmann.
»Die Leute sind da«, sagte Bennie. »Die Sache ist im Rollen. Ich kann sie nicht mehr anhalten.«
»Es ist zu spät. Ich bin zu alt. Ich kann - ich kann das einfach nicht.«
Scotty Hausmann hörte sich an, als habe er eben noch geweint oder stehe kurz davor - möglicherweise beides. Sein schulterlanges, aus dem Gesicht gestrichenes Haar und die leeren, gehetzten Augen verstärkten den heruntergekommenen Eindruck, obwohl er glatt rasiert war. Alex erkannte nur seine Zähne: weiß und leuchtend - sie sahen verlegen aus, als wüssten sie, dass man so ein Gesichtswrack eben doch nicht retten konnte. Und Alex war klar, dass es keinen Scotty Hausmann gab. Er war eine Worthülse in Menschengestalt, eine Schale, deren Inhalt verschwunden war.
»Du kannst das, Scotty - du musst«, sagte Bennie mit seiner üblichen Ruhe, aber durch sein schütter werdendes silbernes Haar entdeckte Alex Schweißtropfen auf seiner Kopfhaut. »Die Zeit will einen fertigmachen, oder? Wirst du dich etwa so rumstoßen lassen?«
Scotty schüttelte den Kopf. »Die Zeit hat gewonnen.«
Bennie holte tief Luft, ein kurzer Blick auf seine Uhr war das einzige Anzeichen seiner Ungeduld. »Du bist zu mir gekommen, Scotty, weißt du das noch?«, fragte er. »Vor über zwanzig Jahren - kannst du glauben, dass es so lange her ist? Du hast mir einen Fisch mitgebracht.«
»Ja.«
»Ich dachte, du wolltest mich umbringen.«
»Hätt ich tun sollen«, sagte Scotty. Ein einzelner Gelächterhieb. »Wollte ich auch.«
»Und als ich ganz unten landete - als Steph mich rausgeworfen hat und ich bei Sow’s Ear gefeuert wurde -, da habe ich dich ausfindig gemacht.
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