Der groesste Teil der Welt
nichts, wir liegen nur nebeneinander in der Dunkelheit. Endlich sage ich, Du hättest es mir erzählen müssen.
Was denn erzählen, fragt sie, aber ich weiß es selbst nicht. Dann sagt sie, Es ist zu viel, und ich habe das Gefühl, dass etwas zu Ende geht, jetzt, in dieser Minute.
Nach einer Weile schaltet Jocelyn eine Lampe neben dem Bett ein. Schau, sagt sie. In der Hand hält sie ein gerahmtes Bild von Lou in einem Schwimmbecken, umgeben von Kindern, die beiden kleinsten sind fast noch Babys. Ich zähle sechs. Jocelyn sagt, Das sind seine Kinder. Die Blonde wird von allen Charlie genannt, sie ist zwanzig. Rolph, der da, ist in unserem Alter. Sie waren mit ihm in Afrika.
Ich beuge mich zu dem Bild vor. Lou sieht so glücklich aus, zusammen mit seinen Kindern, wie ein ganz normaler Vater, ich kann kaum glauben, dass der Lou, der hier bei uns ist, derselbe Lou sein soll. Dann sehe ich seinen Sohn Rolph. Er hat blaue Augen, schwarze Haare und ein strahlendes, süßes Lächeln. Mein Magen krampft sich zusammen. Ich sage, Rolph ist in Ordnung, und Jocelyn lacht und sagt, Stimmt. Dann meint sie, Sag Lou nicht, dass ich das gesagt habe.
Eine Minute später kommt er ins Schlafzimmer, er zermalmt bereits den nächsten Apfel. Mir wird klar, dass die Äpfel allesamt für Lou sind, er verzehrt einen nach dem anderen, ohne Pause. Ich rutsche vom Bett, ohne ihn anzusehen, und er schließt hinter mir die Tür.
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was im Wohnzimmer vor sich geht. Scotty sitzt im Schneidersitz da und zupft an einer goldenen Gitarre in Form einer Flamme herum. Alice kniet hinter ihm und hat ihm die Arme um den Hals gelegt, ihr Gesicht ist dicht an seinem, ihre Haare fallen ihm in den Schoß. Sie hat vor Glück die Augen geschlossen. Ich vergesse vorübergehend, wer ich bin - ich kann nur daran denken, wie Bennie zumute sein wird, wenn er das sieht. Ich halte Ausschau nach ihm, sehe aber nur Marty, der die Alben an der Wand mustert und versucht, sich unsichtbar zu machen. Dann bemerke ich die Musik, die aus jeder Ecke der Wohnung strömt - dem Sofa, den Wänden, sogar dem Boden -, und ich weiß, dass Bennie allein in Lous Studio ist und uns mit Musik überflutet. Eben war es »Don’t Let Me Down«, dann Blondies »Heart of Glass«, jetzt ist es Iggy Pops »The Passenger«:
I am the passenger
And I ride and I ride
I ride through the city’s backside
I see the stars come out of the sky
Beim Zuhören denke ich, du wirst niemals wissen, wie gut ich dich verstehe.
Ich bemerke, dass Marty irgendwie zögerlich zu mir herüberschaut, und ich begreife, wie der Mechanismus funktioniert: Den letzten beißen die Hunde, also kriege ich Marty. Ich schiebe eine Glastür auf und gehe auf Lous Balkon. Ich habe San Francisco noch nie von so hoch oben gesehen: ein weiches Blauschwarz mit bunten Lichtern und Nebel, der wie grauer Rauch wirkt. Lange Piers ragen in die flache dunkle Bucht hinaus. Ein unangenehmer Wind weht, deshalb hole ich schnell meine Jacke von drinnen, gehe dann wieder hinaus und rolle mich auf einem weißen Plastikstuhl zusammen. Ich schaue auf die Stadt hinunter, bis ich langsam ruhig werde. Ich denke, Die Welt ist riesig. Das kann einem keiner erklären.
Nach einer Weile geht die Tür auf. Ich schaue nicht hin, ich denke, es ist Marty, aber es ist Lou. Er ist barfuß und trägt Shorts, seine Beine sind sogar im Dunkeln braun. Ich frage, Wo ist Jocelyn?
Schläft, sagt Lou. Er steht am Geländer und schaut hinaus. Zum ersten Mal sehe ich ihn so still.
Ich sage, Weißt du noch, wie du in unserem Alter warst?
Lou grinst zu mir herunter, aber es ist eine Kopie des Grinsens, das er beim Essen hatte. Ich bin in eurem Alter, sagt er.
Aber du hast sechs Kinder, erwidere ich.
Stimmt, sagt er. Er kehrt mir den Rücken zu und wartet darauf, dass ich verschwinde. Ich denke, ich hatte keinen Sex mit diesem Mann, ich kenne ihn nicht einmal. Dann sagt er, Ich werde niemals alt werden.
Du bist schon alt, sage ich ihm.
Er wirbelt herum und schaut mich an, wie ich zusammengerollt auf meinem Stuhl liege. Du bist unheimlich, sagt er. Weißt du das?
Das liegt an den Sommersprossen, sage ich.
Es liegt nicht an den Sommersprossen, es liegt an dir. Er schaut mich noch immer an, und dann verändert sich in seinem Gesicht etwas, und er sagt, Das gefällt mir.
Lieber nicht.
Doch. Du wirst mich ehrlich bleiben lassen, Rhea.
Es überrascht mich, dass er sich an meinen Namen erinnert. Ich sage, Dafür ist
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