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Der groesste Teil der Welt

Der groesste Teil der Welt

Titel: Der groesste Teil der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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Sonne tut meinem Kopf weh.
    »Ich sollte dich umbringen«, sage ich und sehe ihm ins Gesicht. »Du hast den Tod verdient.«
    »Das reicht«, sagt Rhea mit ihrer scharfen Mutterstimme.
    Plötzlich schaut Lou mir in die Augen. Es kommt mir vor wie das erste Mal heute. Endlich kann ich ihn sehen, den Mann, der zu mir gesagt hat, Du bist das Beste, was mir je passiert ist, und Wir werden die ganze Scheißwelt sehen und Wieso brauche ich dich so sehr? Und Mitfahren, Kleine? Er grinste in der grellen Sonne, auch das knallrote Auto war vom Sonnenlicht überflutet. Sag einfach, wohin.
     
    Er sieht verängstigt aus, aber er lächelt. Das alte Lächeln ist wieder da. »Zu spät«, sagt er.
    Zu spät. Ich lege den Kopf schräg und schaue zum Dach hoch. Rolph und ich haben einmal eine ganze Nacht hindurch dort oben gesessen und heimlich eine Party beobachtet, die Lou für eine seiner Bands gab. Noch nachdem die Musik verstummt war, saßen wir dort oben, unsere Rücken an die kühlen Fliesen gelehnt. Wir warteten auf die Sonne. Sie ging schnell auf, klein, hell und rund.
    »Wie ein Baby«, sagte Rolph, und ich fing an zu weinen. Diese zerbrechliche neue Sonne in unseren Armen.
    Jeden Abend kreuzt meine Mutter einen weiteren Tag an, an dem ich clean geblieben bin. Ich habe jetzt schon über ein Jahr geschafft, bisher meine längste Phase. »Jocelyn, du hast noch so viel Leben vor dir«, sagt sie. Und wenn ich ihr für einen kurzen Moment glaube, dann wird mir etwas leichter ums Herz. Als ob ich ein dunkles Zimmer verließe.
    Lou sagt wieder etwas. Vielmehr versucht etwas zu sagen. »Stellt euch auf beide Seiten. Macht ihr das, Mädels?«
    Rhea hält seine eine Hand, und ich nehme die andere. Es ist nicht dieselbe Hand wie früher, sie ist knotig und trocken und schwer. Rhea und ich sehen einander über ihn hinweg an. Wir sind da, wir drei, wie früher. Wir sind wieder am Anfang angekommen.
    Er weint nicht mehr. Er betrachtet seine Welt. Den Pool, die Fliesen. Wir sind nie nach Afrika gefahren oder sonst wohin. Wir haben dieses Haus kaum verlassen.
    »Schön hier. Mit euch Mädels«, sagt er und ringt um Atem.
    Er klammert sich an unsere Hände, als ob wir fliehen könnten. Aber das tun wir nicht. Wir schauen auf den Pool und hören den Vögeln zu.
    »Noch eine Minute«, sagt er. »Danke, Mädels. Noch eine. Genau so.«
     
    Nullen und Einsen
     
    So hat es angefangen: Ich saß auf einer Bank im Tompkins Square Park und las eine Ausgabe von Spin, die ich in der Buchhandlung hatte mitgehen lassen, sah zu, wie Frauen aus dem East Village auf dem Weg von der Arbeit nach Hause den Park durchquerten, und fragte mich (wie so oft), wie meine Exfrau es geschafft hatte, New York mit tausenden von Frauen zu bevölkern, die überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihr hatten, mich aber dennoch an sie erinnerten, als ich eine Entdeckung machte. Mein alter Freund Bennie Salazar war Musikproduzent! Im Spin war ein ganzer Artikel über Bennie und wie er sich mit einer Gruppe namens Conduits, die vor drei oder vier Jahren Mehrfachplatin geholt hatten, einen Namen gemacht hatte. Es gab ein Bild von Bennie, wie er irgendeine Auszeichnung erhielt, er sah außer Atem aus und schien ein wenig zu schielen - eine dieser Momentaufnahmen eines hektischen Augenblicks, von denen man einfach weiß, dass ein ganzes glückliches Leben dahintersteckt. Ich sah das Bild weniger als eine Sekunde lang an, bevor ich die Zeitschrift zuklappte. Ich beschloss, nicht an Bennie zu denken. Es gibt einen feinen Grat dazwischen, an jemanden zu denken und daran zu denken, nicht an jemanden zu denken, aber ich habe Geduld und Selbstkontrolle genug, um stundenlang auf diesem Grat zu balancieren - tagelang, wenn es sein muss.
     
    Nachdem ich eine Woche lang nicht an Bennie gedacht hatte - ich habe so sehr daran gedacht, nicht an Bennie zu denken, dass in meinem Gehirn kaum Platz für andere Gedanken blieb -, beschloss ich, ihm einen Brief zu schreiben. Den schickte ich an seine Plattenfirma, die, wie sich herausstellte, in einem grünen Glasgebäude an der Ecke Park Avenue und Zweiundfünfzigste Straße logierte. Ich fuhr mit der U-Bahn hin und stand vor dem Haus, den Kopf in den Nacken gelegt, und schaute hoch, hoch, und fragte mich, wie hoch oben Bennie Büro wohl lag. Ich betrachtete noch immer das Haus, als ich den Brief in den davor angebrachten Briefkasten fallen ließ. Hey Benjo, hatte ich geschrieben (so hatte ich ihn immer genannt). Lange nicht mehr gesehen. Ich höre, Du

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