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Der groesste Teil der Welt

Der groesste Teil der Welt

Titel: Der groesste Teil der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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durch die Dunkelheit. Endlich rappelte sie sich hoch. Als sie sich aufrichtete, spürte sie, wie der Schmerz sich in ihrer Brust festsetzte. Ihre Knie zitterten unter diesem neuen, unangenehmen Gewicht.
    »Gute Nacht, Noreen«, sagte sie, als sie sich ihren Weg durch die Blumen und Sträucher zurück zum Haus suchte.
    »Gute Nacht«, hörte sie leise.

Die Vorführung des Generals
     
    Dollys erste großartige Idee war die Mütze. Sie suchte eine türkisblaue aus, flauschig, mit Klappen, die über die riesigen, wie verschrumpelte Aprikosen aussehenden Ohren des Generals fielen. Die Ohren waren unansehnlich, fand Dolly, es wäre besser, sie zu bedecken. Als sie einige Tage darauf das Bild des Generals in der Times sah, hätte sie sich fast an ihrem pochierten Ei verschluckt: Er sah aus wie ein Baby, ein riesiges, krankes Baby mit einem gewaltigen Schnurrbart und einem Doppelkinn. Die Schlagzeile hätte kaum schlimmer sein können:
     
    GENERAL B.s SELTSAME KOPFBEDECKUNG HEIZT KREBSGERÜCHTE AN.
    LOKALE UNRUHE WÄCHST
     
    Dolly sprang auf und lief panisch durch ihre heruntergekommene Küche, so dass sie ihren Bademantel mit Tee bekleckerte. Sie schaute entsetzt das Bild des Generals an. Und dann wurde es ihr klar: die Bänder. Sie hatten die Bänder unter der Mütze nicht abgeschnitten, wie sie ihnen gesagt hatte, und die riesige flauschige Schleife unter dem Doppelkinn des Generals sah furchtbar aus. Dolly rannte barfuß in ihr Arbeitszimmer, das gleichzeitig ihr Schlafzimmer war, und blätterte hektisch durch die Faxseiten, auf der Suche nach der neuesten Nummer, die sie wählen sollte, um Are zu erreichen, den Offizier des Generals, der für die Kontaktpflege zuständig war. Der General war ständig unterwegs, um Anschlägen zu entgehen, aber Are faxte die aktuellen Kontaktinformationen immer pünktlich an Dolly. Diese Faxe kamen meistens gegen drei Uhr nachts und weckten Dolly und manchmal auch ihre Tochter Lulu auf. Dolly sprach diese Störungen nie an: Der General und sein Team glaubten, sie sei die beste pr-Agentin New Yorks, eine Frau, deren Faxgerät in einem Eckbüro mit Panoramablick auf New York City stehen musste (was viele Jahre lang tatsächlich der Fall gewesen war) und nicht direkt neben ihrem Schlafsofa. Dolly führte diesen Fehleindruck auf einen veralteten Artikel zurück, der aus Vanity Fair, InStyle oder People zu ihnen gelangt war, Zeitschriften, in denen über Dolly unter ihrem früheren Nom de Plume geschrieben worden war: La Doll.
    Der erste Anruf aus dem Lager des Generals war gerade noch rechtzeitig gekommen: Dolly hatte soeben ihre letztes Schmuckstück versetzt. Sie las bis zwei Uhr nachts Schulbücher Korrektur, schlief anschließend bis fünf und führte dann höfliche Telefonate mit ehrgeizigen Englischschülern in Tokio, bis es Zeit wurde, Lulu zu wecken und ihr Frühstück zu machen. Selbst all das reichte bei Weitem nicht aus, um Lulu weiterhin auf Miss Rutgers Schule für höhere Töchter schicken zu können. Oft verbrachte Dolly die drei Stunden Schlaf, die sie sich überhaupt zugestand, geplagt von der Angst beim Gedanken an die nächste exorbitante Schulgebührenrechnung.
    Und dann hatte Are angerufen. Der General wünschte sich eine persönliche pr-Agentin. Er wünschte Rehabilitation, Sympathien in den usa und dass die cia mit den Mordversuchen aufhörte. Wenn Gaddafi das geschafft hatte, wieso nicht auch er? Dolly fragte sich ernsthaft, ob Überarbeitung und Schlafmangel diese Halluzinationen hervorriefen, aber sie nannte einen Preis. Are notierte sich ihre Bankverbindung. »Der General hat angenommen, Ihr Satz würde höher liegen«, sagte er, und wenn Dolly in diesem Moment ein Wort herausgebracht hätte, dann hätte sie gesagt: Das ist mein Satz für eine Woche, mein Bester, nicht für einen Monat, oder Hey, ich hab Ihnen noch nicht die Formel gegeben, mit der Sie den eigentlichen Preis ausrechnen können oder Das ist nur für die zwei Probewochen, nach denen ich entscheide, ob ich mit Ihnen arbeiten will. Aber Dolly konnte nicht sprechen. Sie weinte.
    Als die erste Rate auf ihrem Bankkonto eintraf, war Dolly dermaßen erleichtert, dass das Geld die schwache, besorgte Stimme in ihr fast übertönt hätte, die flüsterte: Dein Klient ist ein völkermordender Diktator. Dolly hatte weiß Gott schon früher mit Arschlöchern gearbeitet; wenn sie diesen Job nicht annahm, würde jemand anders sich darauf stürzen: als pr-Agentin durfte man die Kunden nicht verurteilen - all

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