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Der groesste Teil der Welt

Der groesste Teil der Welt

Titel: Der groesste Teil der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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Brust.
    In Jeans und Stiefeln sucht Drew sich seinen Weg zu der Stelle, wo Müll und Wasser aufeinandertreffen. Eine eckige Betonplatte ragt hinaus, das unfertige Fundament eines längst vergessenen Bauwerks, und er klettert hinauf. Er bindet seine Stiefel auf und zieht sie aus, dann streift er die Jeans und Boxershorts ab. Selbst in deiner Panik kannst du die lässige Schönheit eines Mannes, der sich auszieht, vage genießen.
    Er schaut sich nach dir um, und du siehst für einen Moment seine nackte Vorderseite, die dunklen Schamhaare und die kräftigen Beine. »Das wollte ich schon immer mal«, sagt er tonlos und macht einen langen, sehnigen, flachen Sprung, knallt auf dem Wasserspiegel des East River auf und stößt etwas aus, das irgendwo zwischen einem Schrei und einem Aufkeuchen liegt. Er taucht wieder auf, und du hörst, wie er nach Atem ringt. Es kann kaum wärmer als sieben Grad sein.
    Du steigst auf den Betonblock und fängst an, dich auszuziehen, wie betäubt vor Angst, aber angespornt von dem vagen Gefühl, dass es etwas über dich aussagen, etwas beweisen wird, wenn du diese Furcht bezwingen kannst. Deine Narben jaulen in der Kälte. Dein Schwanz ist zu Walnussgröße geschrumpft, und dein Footballergewicht gerät ins Wanken, aber Drew schaut nicht einmal hin. Er schwimmt mit starken, stetigen Schwimmerzügen.
    Du legst eine Bauchlandung hin, dein Körper knallt auf das Wasser, dein Knie stößt unter der Wasseroberfläche auf etwas Hartes. Die Kälte schließt sich um dich zusammen und nimmt dir den Atem. Du machst hektische Schwimmbewegungen, um von dem Müll wegzukommen, den du dir unter dir vorstellst, rostige Haken und Klauen, die nach deinen Genitalien und Füßen greifen. Dein Knie tut weh von dem Aufprall.
    Du hebst den Kopf und siehst Drew auf dem Rücken treiben. »Wir können hier doch wieder raus, oder?«, schreist du.
    »Ja, Rob«, antwortet er mit dieser tonlosen neuen Stimme. »Auf demselben Weg, auf dem wir reingekommen sind.«
    Du sagst nichts mehr. Du brauchst all deine Kraft, um Wasser zu treten und nach Luft zu schnappen. Irgendwann fühlt sich die Kälte an deiner Haut fast tropisch warm an. Das Kreischen in deinen Ohren legt sich, und du kannst wieder atmen. Du schaust dich um, verwirrt von der geheimnisvollen Schönheit deiner Umgebung: eine vom Wasser umgebene Insel. In der Ferne schiebt ein Schlepper seine Gummilippe hervor. Die Freiheitsstatue. Ein Donnern von Rädern auf der Brooklyn-Brücke, die aussieht wie das Innere einer Harfe. Kirchturmglocken, mäandernd und misstönend wie die Windharfen, die deine Mutter auf die Veranda hängt. Du bewegst dich schnell, und als du dich nach Drew umschaust, kannst du ihn nirgends entdecken. Das Ufer ist weit weg. Jemand schwimmt davor, aber in solcher Entfernung, dass du, als der Schwimmer anhält und hektisch mit den Armen wedelt, nicht sehen kannst, wer es ist. Du hörst ein entferntes Rufen, »Rob!«, und dir geht auf, dass du diese Stimme schon seit einer ganzen Weile hörst. Panik durchbohrt dich und bringt dir kristallklar die physischen Tatsachen vor Augen: Eine Strömung hat dich erfasst. Es gibt Strömungen in diesem Fluss - das hast du gewusst, hast es irgendwo gehört und vergessen -, du brüllst, spürst aber, wie schwach deine Stimme ist, spürst die seismische Gleichgültigkeit des Wassers, das dich umgibt - und das alles im Bruchteil einer Sekunde. »Hilfe! Drew!«
    Während du um dich schlägst, obwohl du weißt, dass du jetzt nicht in Panik geraten darfst - Panik raubt dir die Kraft -, ziehst du dich innerlich zurück, wie es dir so oft, so leicht gelingt, manchmal ohne dass du es auch nur bemerkst, und überlässt es Robert Freeman junior, allein mit der Strömung fertig zu werden, während du dich in die weitere Landschaft rettest und in dem Wasser aufgehst, den Häusern und den Straßen, den Avenuen wie endlosen Korridoren, einem Haus voller schlafender Studenten, der Luft, die sich aus ihrem gemeinsamen Atem speist. Du schlüpfst durch Sashas offenes Fenster, schwebst über die mit Andenken von ihren Reisen belegte Fensterbank: eine weiße Muschel, eine kleine goldene Pagode, zwei rote Würfel. Ihre Harfe mit dem dazugehörigen Holzschemel in der Ecke. Sie schläft in ihrem schmalen Bett, ihre brandroten Haare dunkel auf dem Kissen. Du kniest dich neben sie hin, atmest den vertrauten Geruch von Sashas Schlaf ein, flüsterst ihr alles Mögliche ins Ohr wie Tut mir leid und Ich glaube an dich und Ich werde immer bei

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