Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der groesste Teil der Welt

Der groesste Teil der Welt

Titel: Der groesste Teil der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
Vom Netzwerk:
jedem Semester drei Kunstgeschichtsseminare und hatte einen Haufen Verwaltungsaufgaben übernommen - er brauchte Geld). Denken und Schreiben fanden in einem kleinen Arbeitszimmer statt, das in eine Ecke seines heruntergekommenen Hauses gequetscht war und an dessen Tür er ein Schloss angebracht hatte, um seine Söhne auszusperren. Die versammelten sich sehnsuchtsvoll vor dieser Tür, seine Jungen mit ihren vergrämten, herzzerreißenden Gesichtern. Sie durften nicht einmal an die Tür des Raumes klopfen, in dem er über Kunst nachdachte und schrieb, aber Ted hatte keine Möglichkeit gefunden, um sie am Herumlungern zu hindern, gespenstische streunende Wesen, die im Mondlicht aus einem Teich tranken, ihre bloßen Zehen in den Teppich gruben und deren Finger an den Wänden schwitzten und Fettflecke hinterließen, die Ted jede Woche Elsa, der Putzfrau, zeigte. Immer wenn er in seinem Arbeitszimmer saß, lauschte er den Bewegungen seiner Jungen und stellte sich vor, ihren heißen, neugierigen Atem spüren zu können. Ich lasse sie nicht rein, sagte er sich immer wieder. Ich will hier sitzen und über Kunst nachdenken. Aber zu seiner Verzweiflung stellte er fest, dass er oft nicht über Kunst nachdenken konnte. Er dachte über rein gar nichts nach.
     
    In der Abenddämmerung schlenderte Ted durch die Via Partenope zur Piazza Vittoria. Dort wimmelte es von Familien, Kinder traten nach den allgegenwärtigen Fußbällen und tauschten Salven von ohrenbetäubendem Italienisch aus. Aber es gab in dem schwindenden Licht auch noch eine andere Präsenz: die ziellosen, bedrohlich wirkenden Jugendlichen, die sich in dieser Stadt mit ihrer Arbeitslosenrate von dreiunddreißig Prozent herumtrieben, Angehörige einer entrechteten Generation, die um die verfallenen Palazzi herumlungerten, wo ihre Vorfahren im fünfzehnten Jahrhundert im Luxus gelebt hatten, und die sich auf den Treppen von Kirchen, in deren Krypten diese Vorfahren jetzt in winzigen, wie Klafterholz gestapelten Särgen lagen, ihren Schuss setzten. Ted scheute vor diesen Jugendlichen zurück, obwohl er über eins neunzig war, über hundertfünf Kilo wog und ein Gesicht hatte, das im Badezimmerspiegel harmlos genug aussah, das seine Kollegen aber oft zu der Frage veranlasste, was denn los sei. Er fürchtete, Sasha könne bei diesen Jugendlichen sein - dass sie ihn in dem nach Einbruch der Dunkelheit über Neapel liegenden gelblichen Laternenlicht beobachtete. Bis auf eine Kreditkarte und ein Minimum an Bargeld hatte er seine Brieftasche leer gemacht. Eilig verließ er die Piazza und machte sich auf die Suche nach einem Restaurant.
    Mit siebzehn war Sasha abgehauen, das war zwei Jahre her.
    Abgehauen wie ihr Vater, Andy Grady, ein wild gewordener Kapitalist mit lila Augen, der sich ein Jahr nach seiner Scheidung von Beth vor den Gläubigern eines geplatzten Geschäfts aus dem Staub gemacht hatte und niemals wieder von sich hören ließ. Sasha war ab und zu wieder aufgetaucht, hatte aus weit entfernten Orten telegrafische Geldüberweisungen verlangt, und zweimal waren Beth und Hammer sonst wohin geflogen und hatten vergeblich versucht, sie abzufangen. Sasha war einer Jugend entflohen, während derer sie alles mitgemacht hatte: Drogenkonsum, zahllose Festnahmen wegen Ladendiebstahls, eine Vorliebe für die Gesellschaft von Rockmusikern (Beth hatte sie aus lauter Hilflosigkeit deswegen angezeigt), vier Psychiater, Familientherapie, Gruppentherapie und drei Selbstmordversuche. All das hatte Ted aus der Ferne mit einem Entsetzen beobachtet, das sich irgendwann mit Sasha selbst verband. Als kleines Mädchen war sie reizend gewesen - bezaubernd geradezu -, er wusste das noch aus einem Sommer, den er bei Beth und Andy in ihrem Haus am Michigansee verbracht hatte. Aber als Ted sie gelegentlich zu Weihnachten oder Thanksgiving sah, hatte sie sich längst in eine übellaunige Gestalt verwandelt, und er hatte seine Söhne von ihr ferngehalten, aus Angst, Sashas Selbstzerstörung könne auf die Jungen irgendwie abfärben. Er wollte nichts mit Sasha zu tun haben. Sie war verloren.
    Am nächsten Morgen stand Ted früh auf und fuhr mit einem Taxi zum Museo Nazionale: Es war kühl, leer und hallend, ohne Touristen, obwohl es Frühling war. Er schlenderte zwischen den verstaubten Büsten von Hadrian und etlichen Cäsaren umher und fühlte sich in der Gegenwart von so viel Marmor in einer Weise, die an Erotik grenzte, physisch belebt. Er ahnte die Nähe von Orpheus und Eurydike, noch ehe er

Weitere Kostenlose Bücher