Der große deutsche Märchenschatz
des Rathauses nieder, von wo man alle StraÃen überschauen konnte, ohne Gefahr, selbst gesehen zu werden. â Das war ein Anblick! So prächtig hatte selbst der König sich nicht eine Menschenstadt denken können. Die Prinzessin jubelte auch vor Freuden so sehr, dass sie beinahe aus dem Nest gefallen wäre, hätte nicht einer der Kraniche mit seinem langen Schnabel sie schnell an den Beinchen festgehalten.
Nun wollte aber der Zufall, dass gerade an demselben Tage der Prinz des Landes in dieser Hauptstadt seine Hochzeit mit einer fremden Königstochter feierte, sodass die ganze Stadt in gröÃter Pracht funkelte.
Was gab es da nicht, alles zu schauen! Aufzüge, Jahrmarkt, Paraden von tausend Regimentern, Theater im Freien, Seiltänzer, Tanzböden, Wettrennen â es lässt sich unmöglich beschreiben! Vor allem aber der Prinz und seine junge Frau! Wie schön sah er aus in seiner roten Husarenuniform mit dem Stern auf der Brust, dem Schnurr- und Knebelbart und den groÃen blauen Augen, und sie, im roten Samtkleide mit Perlen und Brillanten über und über bedeckt, die bis hoch auf die Rathausturmgalerie heraufblitzten! â Wo man nur hinsah, gab es immer wieder was Neues, und so ging es vom frühen Morgen bis die Sonne hinter den Bergen verschwand.
So sehr alle die Herrlichkeiten den Wurzelkönig auch entzückten, sein Urteil über die Menschen änderte sich nicht. Daher war es ihm denn gar nicht recht, dass seine Tochter gerade am heutigen Tage die glänzendsten Seiten des menschlichen Treibens musste kennenlernen. Dennoch war er zu schwach, sich selbst den Anblick zu versagen. Er wäre auch noch länger dort oben geblieben, wenn bei anbrechender Dunkelheit nicht plötzlich Menschen auf die Galerie gekommen wären, um dort Illumination und Feuerwerk anzustecken. Die Männer näherten sich dem Neste. Wie erschrak die Prinzessin beim Anblick dieser Riesengestalten! Auch der König verlor vor Angst die Sprache, und hätten nicht die Kraniche von selbst das Storchnest in die Höhe gehoben und in raschem Fluge davongetragen, so wäre es mit dem Wurzelpärchen und unserer Geschichte bald zu Ende gewesen. So aber war es gerade zur rechten Zeit. Noch ganz von Weitem sahen die Luftfahrer das Feuerwerk über dem Rathausturm in die Luft prasseln, was aus der Ferne zwar sehr prächtig anzuschauen war, in der Nähe aber ihr sicherer Tod gewesen wäre. Wohlbehalten kamen beide wieder in ihrem Wurzeltale an.
Freilich erkannte nun wohl die junge Prinzessin, dass die Menschen für sie zu groà wären, als dass sie mit Vergnügen ihre Herrlichkeiten hätte genieÃen können. Die alten Wünsche stiegen aber dennoch wieder und jetzt viel stärker als früher in ihrem Herzen auf, wenngleich in einer etwas anderen Gestalt. Sie bildete sich fest ein, es müsse auf Erden noch ein anderes Geschlecht geben, so klein wie ihre Landsleute, aber so gescheit wie die Menschen, und sie beschloss daher, niemals in ihrem Leben zu heiraten, wenn nicht ein Prinz von ihrer GröÃe sie zur Frau nähme; der aber müsse gerade solche Husarenjacke anhaben, gerade solchen Stern auf der Brust tragen und gerade so groÃe blaue Augen besitzen wie der Menschenprinz in der Hauptstadt, auch sollte er über ein Völkchen regieren, das ähnliche Eigenschaften wie jenes besäÃe.
Diese Grille seiner Tochter machte den alten guten König recht traurig. Wie gern hätte er einen Schwiegersohn gehabt! Aber ein solcher, wo in der ganzen Welt war der zu finden? Zwar versuchte er alles Mögliche, um sein Volk nach menschlichen Grundsätzen zu bilden, doch kam bei alledem nicht eben viel Gescheites heraus. Hören konnten die kleinen Kerle nicht genug von den Menschen und ihrem Treiben, aber selbst welche werden? Nein! Sie wollten nun und immer bleiben was sie waren: freie lustige Wurzelmänner! â Die Folge davon war, dass die Prinzessin keinen Mann und der König keinen Schwiegersohn bekam.
Zweites Kapitel
Das Frühlingsfest im Wurzeltal. â Die Nusswiese. â Die
Wandervögel. â Es erscheint ein fremdes Volk. â Nussknacker
und Hampelmann. â Die Prinzessin gerät in Entzücken
.
Es waren mehrere Jahre vergangen, als wieder einmal das Frühlingsfest erschien. Schon blühte und sprosste alles, auf Bäumen und Hecken, auf den Felsen wie in den Gründen. Das Wurzelvolk hatte bereits
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