Der große deutsche Märchenschatz
Mut. Um Hilfe zu ersehen, drehte er sich wie ein Kreisel nach allen Seiten herum, und eh er es selbst noch dachte, zeigte sich ihm wirklich die ersehnte Hilfe in einer Art, die ans Wunderbare grenzte.
Weithin schienen die braunen Felder, die neben der Schlucht dem Walde gegenüber lagen, auf einmal lebendig zu werden. Ein gewaltiger Zug Wanderratten, die auf einer Reise von Süden nach Norden begriffen waren, zog daher und ging zufällig gerade auf die umherliegenden Kisten los.
»Aus dem Wege, mein Prinz!«, rief Hampelmann, »wenn wir uns nicht selbst wie Haselnüsse wollen auffressen lassen.«
Beide sprangen auf die Seite. Die Ratten, die, wie bekannt, keine Umwege kennen, sondern immer geradeaus, durch Felder und Wälder, über Zäune und Mauern hinwegspazieren und sich durchbeiÃen, wo sie nur können, fielen ohne Umstände über die Kisten her. Das frische, junge Fichtenholz der Bretter war ihren scharfen Zähnen ein gefundenes Fressen, ebenso die festen, hanfnen Stricke. Bald hier, bald da fiel ein Deckel, bald hier, bald da sprang ein Strick. Das köstliche Spielzeug lag in kurzer Zeit bunt durcheinander auf der StraÃe umher, und einzelne Ratten fingen schon an, auch an diesem ihre leidenschaftliche Nagelust zu befriedigen. Wie Hampelmann das sah, rief er den Ratten zu: »Prosit Mahlzeit, ihr Bretterfresser, jetzt habt ihr genug!«, und mit einem Satze sprang er in den Bach, schlug Arme und Beine fortwährend über dem Kopfe zusammen, dass das Wunderwasser weit umher und auf alle die Nussknacker, Hampelmänner und zinnernen und hölzernen Soldaten spritzte, die, nun auch davon benetzt, sogleich lebendig wurden und auf ihren Beinchen emporsprangen.
»Immer mir nach! Und machtâs wie ich«, rief Hampelmann fortwährend. »Ein Narr macht viele Narren, ein Kluger viele Kluge!« â und richtig! immer neue Puppen lebten auf und erweckten wieder neue zum Leben, die Regimenter fanden sich zusammen, die kleinen Pferde an den kleinen Kanonen erhoben sich und fuhren ihnen nach, die zinnernen Generale stellten sich an die Spitzen der Armeen und kommandierten, und im Nu war die Schlachtordnung gegen die Ratten gebildet. Es war aber auch die höchste Zeit, denn schon fielen einige Puppen unter den scharfen Zähnen der garstigen Tiere zu Spänen auseinander. Da erwachte auch im Nussknacker ein wahrhaft groÃartiger Heldenmut. Seine Augen rollten nach allen Seiten, seine Kinnbacken klapperten vor Kampflust, der hölzerne Zopf begleitete alle Bewegungen seines Mundes mit fürchterlichen Zuckungen! Schnell zog er sein Schwert aus der Scheide, und an der Spitze seiner Leibgarde (die ebenfalls Nussknacker, aber ohne Stern, daher auch keine Prinzen waren) führte er das Heer zur Schlacht.
Jetzt kommandierte er Feuer! Sogleich knatterten alle Gewehre und Kanonen der unzähligen Regimenter auf die Ratten los, und erschreckt von dem ungewohnten Getöse ergriffen diese eiligst die Flucht. So ward der Sieg glänzend errungen, und wo früher umgestürzte Kisten aufgetürmt waren, sah man nun eine neue bunte Welt. Städte und Dörfer, Festungen und Landhäuser, Küchen und Putzstuben lagen über- und untereinander, dazwischen liefen viele Tausende kleiner Menschen und Tiere umher. â Das erste, was nun geschah, war natürlich, dass Prinz Nussknacker sich von seinem Volke als Fürst huldigen lieÃ.
Jetzt war aber die letzte Aufgabe noch zu erfüllen: eine Prinzessin zu finden und mit ihr ein Stück Land zu erwerben, wo die neue Kolonie sich niederlassen könnte. Auch dazu fand Hampelmann bald Rat. Einige verwundete und gefangene Ratten mussten auf sein Geheià von allen Prinzessinnen, die sie auf ihren Wanderungen kennengelernt hatten, Bericht erstatten. Als sie nun auch von der Wurzelprinzessin viel Schönes berichteten, wurde bei ihrer Beschreibung das hölzerne Herz des Fürsten Nussknacker so stark erwärmt, dass ein Ton durch dasselbe fuhr, als wenn eine Diele in einer plötzlich erwärmten Stube zu reiÃen anfängt. Dieser Ton war ihm ein Zeichen: Nur diese und keine andere Prinzessin dürfe seine Königin werden. Er beschloss daher auf der Stelle, mit seinem Volke dorthin zu ziehen und um die Prinzessin zu werben.
Sogleich wurde der Zug geordnet. Als Führer dienten die gefangenen Ratten. Ihnen folgte Reiterei, dann der König mit seinem Hofstaate; hinter ihm das Geschütz und
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