Der große deutsche Märchenschatz
wertes Kleinod bei sich, und es verging wohl kein Tag, dass er nicht das schöne Bild Clarawundens betrachtete. So hielt er auch eines Tages, als er auf seinem Zimmer allein war, die Feder in der Hand, als unerwartet der Prinz des Hauses bei ihm eintrat. Voll Erstaunen betrachtete dieser die schönen Farben der Feder; als er aber das wunderbare Bild erblickte, zitterte er vor Verwunderung. Unwillkürlich griff seine Hand nach der Feder, und mit den Worten »Sie muss mein eigen werden!« stürzte er damit zur Tür hinaus.
Traurig saà der Prinz da und weinte Tränen über das schöne Bildnis, das ihm für immer verloren schien. Aber nicht lange sollte er in seiner Traurigkeit bleiben, denn der alte König trat eilends in sein Zimmer und sprach: »Du bist ein tapferer Held, schaffe meinem Sohn Clarawunden herbei und ich werde dir einen hohen Lohn geben.«
Der Prinz ging auf die Bitte des Königs ein und machte sich am andern Morgen auf den Weg. Aber wo sollte er die schöne Prinzessin suchen? Welchen Weg musste er einschlagen? Diese Fragen beschäftigten eben seine Seele, und schon war er nahe daran, wieder umzukehren, als er plötzlich eine Menge Raben über sich erblickte, welche ihn durch ihr Gekrächz einluden, ihnen zu folgen. Es waren die Raben, denen er einst das Leben gefristet. Tag für Tag waren sie seine treuen Begleiter und Wegweiser, bis er an den Ort gelangte, wo das Schloss Clarawundens stand. Es lag mitten in einem See auf einer Insel, zu der eine lange Brücke hinüberführte.
Als der Prinz in das Schloss eintrat, fand er Clarawunde allein in einem prächtigen Saal. In aller Bescheidenheit brachte er sein Anliegen vor und bat, dass sie ihm folgen möchte. Mit tiefer Betrübnis vernahm die Prinzessin das Verlangen jenes mächtigen Herrschers. Schweigend folgte sie dem Prinzen, verschloss den Eingang des Schlosses und warf die Schlüssel in den See.
Als sie nun ihren Einzug in die Hauptstadt hielt, wurde sie mit groÃem Jubel empfangen, und man tat alles, was man ihr an den Augen absehen konnte. Doch Clarawunde sprach: »Ich finde an dem allen kein Vergnügen, wenn man mir nicht mein Schloss nebst den Schlüsseln, welche ich in den See geworfen, herbeischafft.«
Da forderte der alte König den Prinzen abermals auf, den Wunsch Clarawundens zu erfüllen. Man gab ihm ein groÃes Heer mit; aber dieses würde ihm nichts genützt haben, wenn nicht andere Hilfe gekommen wäre. Er traf nämlich jenen Riesen, dem er einst das Leben gerettet, und als er diesem sein Vorhaben erzählte, sprach er: »Schicke das Heer dem König zurück, ich werde dir kräftigere Hände herbeischaffen.« Darauf nahm der Riese ein mächtiges Horn von seiner Schulter und blies hinein, dass die Erde zitterte. Da kamen von allen Seiten unzählige Riesen herbeigeeilt, und als sie alle beisammen waren, viel tausend an der Zahl, zogen sie nach dem Schlosse. Mit Leichtigkeit hoben sie dasselbe aus seinen Grundfesten und trugen es davon, als ob sie einen Federsack auf der Schulter hätten. Der Prinz folgte dem Zuge, und als er an die Stelle kam, wo einst die Prinzessin die Schlüssel in den See geworfen, blickte er in die Tiefe hinab, ob er dieselben vielleicht erspähen möchte. So hatte er einen Augenblick dagestanden, als das bekannte Fischlein herbeigeschwommen kam, die Schlüssel im Munde tragend. Schnell eilte der Prinz an das Ufer des Sees und nahm die Schlüssel aus dem Munde des Fischleins.
Als nun das Schloss der Prinzessin in der Hauptstadt seinen Platz erhalten, verlangte der alte König von ihr, dass sie die Gemahlin seines Sohnes werde. Allein Clarawunde war dem jungen König abgeneigt, und viel lieber hätte sie dem Prinzen, der sie aus der Ferne herbeigeholt, ihre Hand gereicht. Und als der alte König nicht nachlieà mit Bitten, sprach sie endlich: »Ich werde nur den zu meinem Gemahl nehmen, der es wagt, von der Zinne meines Schlosses auf die Erde herabzuspringen.«
Dies war eine harte Bedingung, und es meldeten sich zu dem gefährlichen Spiel nur die beiden königlichen Prinzen. Beide sprangen zu gleicher Zeit von dem Schloss auf die Erde herab und lagen betäubt am Boden. Eilends kam Clarawunde herbei. In ihrem Busen hatte sie drei Fläschlein verborgen. Das eine enthielt Wasser des Lebens, das zweite Wasser der Schönheit und das dritte Wasser des Todes. Als sie sich nun über
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