Der große deutsche Märchenschatz
ein Traum sei, und sprach versuchsweise: »Graue Eiche, öffne dich!« Und sieh, der Baum öffnete sich und zeigte wieder alle seine Herrlichkeit wie früher. Mit zitternden Händchen griff die arme Waise hinein und nahm einen blanken Zwanziger und der dicke Stamm schloss sich wieder wie vorher und die Eiche stand so ernst und ruhig da, als ob nichts geschehen wäre.
Es fing schon an zu dunkeln, da dachte sich das Mädchen: »Hier im Walde kann ich doch nicht übernachten, denn es könnte der Bär oder der Wolf kommen und mich fressen.« Es sah noch einmal den Baum an und schaute sich genau das Plätzchen ab, auf dem er stand, und ging der Seite zu, auf welcher der Wald sich zu lichten schien. Kaum war es einige Schritte gegangen, so kam es auf eine schöne, breite StraÃe und auf dieser ging es weiter und weiter und wiederholte immer bei sich halblaut »Zistel im Körbel«, bis es plötzlich vor einem groÃen, schönen Schlosse stand, in dem es gar lustig herzugehen schien. Das Mädchen fasste sich ein Herz und ging in den Hof hinein und über die Stiege hinauf bis zur Küche. Dort war des Grafen Köchin gerade mit Bereitung des Abendessens beschäftigt und der Braten brutzelte, dass es eine Lust war. Das Mädchen näherte sich schüchtern dem Herde und bat die Köchin um eine Nachtherberge oder um einen Dienst. Die Köchin sah aber das Mädchen vom Kopf bis zu den Zehen an und fing an zu schimpfen: »Pack dich fort aus der Küche! Wir können hier kein so schmutziges, garstiges Bettelkind brauchen.«
Das arme Kind schrak zusammen und fing an zu weinen und hörte nicht auf zu bitten und zu weinen. Endlich wurde das harte Herz der Wirtschafterin erweicht und sie sprach barsch zum Mädchen: »Nun, wenn du es anders nicht tust, so kannst halt die Hennen und Hühnlein hüten. Du musst aber früh aufstehen und darfst erst spät dich niederlegen und schlafen musst du auch im Hühnerhäuschen. Hab aber acht! â Denn geht ein Hühnlein verloren, so wirst du aus dem Hause gejagt.«
Das Mägdlein war darüber froh und ging auf die Wiese hinunter in das Hühnerhaus und trieb die Hähne, die Hennen und die Hühnchen ein und schlief dort auf dem Stroh. Frühmorgens trieb es dann seine Herde aus und flüsterte »Zistel im Körbel« und hütete den Tag durch und abends trieb es die Hähne, die Hennen und die Hühnchen wieder ein und schlief in ihrer Mitte auf dem Stroh. So ging es eine Woche und das Mädchen fühlte sich wohl und dachte oft an die graue Eiche und das Zistel im Körbel.
Da kam nun der Sonntag und die Glocken klangen von allen Seiten und die Leute gingen in ihrem Sonntagsputz in die Kirche. Dem Mädchen wurde aber weh ums Herz, als es die schönen Kleider der Kirchgänger sah und es allein so schmutzig im grauen Kittelchen dastand. Da kam ihm die graue Eiche in den Sinn und es ging in den Wald hinaus, bis es zum Wunderbaum kam, und sprach mit zitternder Stimme: »Graue Eiche, öffne dich!« â Die graue Eiche öffnete sich und in ihr waren die schönsten Kleider, so man je auf dieser Erde gesehen hatte, und das Mädchen nahm eines, das wie die Sonne am Mittag glänzte, wusch sich am Bächlein, zog das Sonnenkleid an und ging in die Kirche zur Messe.
Sie kam gerade zum Gloria. Als die Leute das
Sonnenkleid
sahen, machten sie der Kommenden ehrerbietig Platz, sodass sie bis zum Betstuhle des Grafen kam. Das arme Mädchen im reichen Sonnenkleid kniete sich neben ihm nieder und betete. Der Graf war aber ganz überrascht und sah die schöne Nachbarin an und wurde immer zerstreuter, je mehr er sie ansah, denn sie dünkte ihm gar zu schön. Wie die Messe vorbei war, eilte die Schöne im Sonnenkleide aus der Kirche, dass es rauschte, und entschwand in den Wald. Dort zog sie das schimmernde Sonnenkleid ab, tat das arme, schmutzige graue Kittelchen an und kehrte als Hennenmädel wieder zum Schlosse zurück.
Der Graf hatte aber seit der Sonntagsmesse keine frohe Stunde mehr, denn es fehlte ihm etwas und er getraute sich nicht, es zu sagen. Er war verstimmt und sah oft Viertelstunden lang zum Fenster hinaus, ohne ein Auge zu verwenden. Die Wochentage schienen ihm zu langsam vorbeizugehen und er sehnte sich nach der Sonntagsmesse. Endlich kam wieder der Sonntag und die Glocken läuteten zur Messe, da ging das arme Mädchen wieder in den Wald hinaus
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