Der große deutsche Märchenschatz
dass er keine öffnen konnte, und die Wände waren viele Fuà dick, nirgends war eine Ãffnung. Da er nun kein andres Mittel wusste, versuchte er es, einzelne Steine aus der Mauer herauszubrechen; mit vieler Mühe gelang es ihm, einen herauszubringen. Da fiel ihm ein, dass das wilde Schwein ihm helfen könne; er rief: »O wäre das wilde Schwein doch hier!« Sogleich stürmte es daher und rannte mit solchem Ungestüm gegen die Mauer, dass augenblicklich ein groÃes Loch entstand. Der junge Bursch ging jetzt in die Kirche hinein; da sah er den Vogel darin herumfliegen. Den kannst du selbst nicht greifen, dachte er, aber wenn der Vogel Greif nur hier wäre! Kaum hatte er das gesagt, war der Vogel Greif da, aber diesem selbst kostete es viele Mühe, den kleinen Vogel zu fangen; endlich aber griff er ihn, gab ihn dem jungen Mann in die Hand und flog davon. Freudig steckte der seine Beute in seinen Korb und trat nun den Rückweg an nach dem Häuschen, wo seine Braut war.
Als er bei ihr wieder angekommen war und ihr erzählte, dass er den Vogel gefangen im Korbe habe, da freute sie sich sehr und sprach: »Nun sollst du erst schnell ein bisschen essen und dann krieche nur wieder unter die Bettstelle mit dem Vogel, dass der alte Mann dich nicht gewahr wird!« Das geschah, und eben als er unter dem Bette lag, so kam auch schon der alte Mann nach Hause, er fühlte sich aber krank und klagte. Da fing das Mädchen wieder an zu weinen und sprach: »Ach, nun stirbt Vater doch, das kann man ja sehen, und Vater hat doch ein Herz in der Brust!« â »Ach, Kind«, erwiderte der Alte, »schweig doch still, ich kann nicht sterben, es geht gewiss bald vorüber!« Nun aber kniff der Bräutigam unter der Bettstelle den Vogel ein wenig. Da ward dem Alten ganz schlecht, dass er sich niedersetzte, und als der Bursche den Vogel noch fester anfasste, fiel er ohnmächtig vom Stuhl. Da rief die Braut: »Kneif ihn jetzt nur ganz tot«, und als der Bursche das getan, lag auch der Alte tot auf dem Boden. Da holte das Mädchen ihren Bräutigam erst unter der Bettstelle hervor, aber dann ging sie hin, nahm die Steine und das weiÃe Stöckchen vom Bord über der Tür, klopfte damit an jeden Stein, da standen mit einem Male alle ihre Schwestern und die Brüder wieder vor ihr. »So«, sagte sie, »nun wollen wir nach Hause reisen und Hochzeit geben und glücklich sein; denn der alte Mann ist tot und wir haben nichts mehr von ihm zu fürchten.« Und das taten sie denn auch. Sie reisten fröhlich miteinander fort, feierten ihre Hochzeit alle an einem Tage und lebten danach noch viele Jahre einträchtig und glücklich miteinander.
Siebenschön
In einem Dorfe wohnten ein paar arme Leute in einem kleinen Häuschen, die hatten eine einzige Tochter. Das Mädchen besorgte ihnen den Hausstand, sie wusch, fegte, kochte und schaffte alles, was zu tun war; das Gärtchen vor dem Hause war immer wohl bestellt, im Hause aber war alles so blank und reinlich, dass es eine Lust anzusehen war. Es gab auch kein Mädchen in der ganzen Gegend, die geschickter im Nähen und Sticken gewesen wäre, und damit verdiente sie ihren armen Eltern das Brot; denn feine Arbeit wird immer gut bezahlt. Weil das Mädchen aber schöner war als sieben andere zusammen, so nannten die Leute sie
Siebenschön
. Sie war aber so sittsam, dass, wenn sie sonntags zur Kirche ging, was sie fleiÃig tat, sie immer einen Schleier vor dem Gesichte trug, damit die Leute sie nicht angaffen sollten.
Da sah sie nun einmal des Königs Sohn und sie war so schlank wie eine Esche, da verliebte er sich in sie und hätte herzlich gerne auch einmal ihr Gesicht gesehen, aber das konnte er nicht vor dem Schleier. Er sprach zu seinen Dienern: »Warum trägt Siebenschön immer einen Schleier, dass man ihr Gesicht nicht sehen kann?« Die Diener antworteten: »Das tut sie, weil sie so sittsam ist.« Da sandte der Königssohn einen Diener mit einem goldenen Fingerreif zu Siebenschön und lieà sie so sehr bitten, heute Abend bei der groÃen Eiche zu sein, er hätte was mit ihr zu sprechen. Siebenschön ging hin, denn sie dachte, gewiss will der Prinz bei dir ein Stück feine Arbeit bestellen. Als aber der Prinz sie nun sah, da verliebte er sich noch viel mehr und verlangte sie zur Frau. Aber Siebenschön sprach: »Du bist so reich und ich nur so arm; dein Vater wird
Weitere Kostenlose Bücher