Der große deutsche Märchenschatz
um zehn Uhr werden, dann will ichâs schon machen. Bis dahin sag keinem, was du vorhast, und sei nur guten Mutes. Du errettest die Prinzessin, dafür lass mich schon sorgen.« Sie machen sichâs nun zu gut, gehen miteinander aus und besehen die Stadt und alles Merkwürdige darin, erkundigen sich auch, wo sich die Prinzessin aufhält und wo sie schläft, welches die Fenster ihrer Schlafkammer sind, gehen dann wieder nach ihrem Wirtshaus, essen Abendbrot und besprechen sich, bis es zehn schlägt. Danach holt der Reisegefährte vom Dieter eine Kruke und ein paar groÃe Federfittiche aus seinem Felleisen und eine recht schwanke, eiserne Rute. Dieter muss sich ausziehen. Der Geist bestreicht ihm seine Schultern mit der Salbe, die in der Kruke ist, und setzt ihm die Fittiche an. Dann sagte er: »Nun fliege hin zu der Prinzessin Kammerfenster und pass auf, wenn sie herauskommt; dann hau sie mit der eisernen Rute immer zu, flieg dahin, wohin sie fliegt, und schleich da mit hinein, wo sie hineingeht. Dann verkriech dich und höre zu, was der Berggeist sagt. Sie wird ihm alles sagen. Sie wird ihn auch dann fragen, was sie dich fragen will. Dann lausche und sei still.«
Als Dieter die Flügel angewachsen sind, macht der Geist das Fenster auf und sagt: »Rückwärts musst du der Prinzessin ebenso folgen, bis sie in ihr Fenster wieder hinein ist.« Nun kriegt Dieter die eiserne Rute in die Hand, fliegt zum Fenster hinaus, über die Stadt weg zum Fenster, wo die Prinzessin schläft. Da sieht er sie, wie sie auch Flügel anhat und im Zimmer hin und her rennt, als wenn sie nicht recht klug ist. Er lässt sich aufs Gesims nieder und wartet, bis sie herauskommt. Sowie es elf schlägt, macht sie das Fenster auf und fliegt fort. Dieter dahinter her, holt sie auch bald ein und fängt sie ganz erbärmlich an zu prügeln, dass es ihn selbst dauert. Doch gehtâs nicht anders, er muss gehorchen, wenn ihm auch sein Herz blutet. Endlich kommen sie nach dem Harz, an einen groÃen hohen Berg, der tut sich auf und beide fliegen hinein. »Nun muss ich aber vorsichtig sein«, dachte Dieter und schlich sich mit in den groÃen Saal hinein, wo an der Tür eine groÃe Truhe war: Hinter der Truhe versteckte er sich, damit er alles hören und auch gleich ReiÃaus nehmen konnte, wennâs schlimm wurde oder wennâs Zeit war. Die Prinzessin lief auf den Berggeist zu, und er nahm sie am Arm. Es war ein alter Mann mit schneeweiÃem Bart, hatte Augen im Kopf, die glühten wie Feuerkohlen, dabei war sein Wesen so grimmig und gefährlich, dass Dieter sich ordentlich zu fürchten begann, sodass es ihn anfing zu gereuen. Doch durfte er sich nun nicht rühren, er konnte so nicht wieder weg. Die Tür war wieder weg und ein groÃer Felsen lag da, wo sie gewesen war. Endlich sagte der Berggeist zur Prinzessin: »Bist lange nicht da gewesen, hast lange keinen umgebracht, hast also auch lange dich nicht können am Blute deiner Retter freuen. Ist also einmal wieder ein Vogel ins Garn gegangen?« â »Ja«, antwortete sie, »es ist einer wieder da, freilich nur ein einfacher Mann aus dem Volke, kein Prinz, Graf oder Adeliger. DrauÃen ist aber ein gewaltig starkes Hagelwetter, sieh her, mein hoher Geist, wie ich zerrissen und zerschlagen bin von den Hagelstücken.« Und das Blut floss an ihr nieder. »Tut nichts«, sagte der Berggeist, »desto mehr musst du deinen Menschen peinigen, desto mehr Freude hast du an seinem Blute, desto mehr musst du davon trinken, desto eher wirst du für mich reif und mein eigen.« â »Was soll ich ihm aber für ein Rätsel aufgeben, woran soll ich denken?«, sagte die Prinzessin. »Denke an deines Vaters weiÃes Ross«, antwortete der Berggeist. Die Prinzessin war es zufrieden und bat: »Lass mich nun wieder hinaus, denn es ist drei Viertel auf zwölf, ich habe noch weit zu fliegen, du weiÃt, die zwölf kommt bald heran.«
Der Berggeist öffnete, die Prinzessin mit Dieter machten sich wieder fort und drauÃen in der Luft gingen die Schläge wieder an bis zum Kammerfenster. Die Prinzessin flog hinein, Dieter nach Haus und legte auf seiner Stube seine Fittiche ab und sich zu Bett. Sein Kamerad schlief schon, hatte aber vorher gesagt: »Nimm vorsichtig die Fittiche ab und lege sie wieder in mein Felleisen, sieh aber zu, dass du keine Feder knickst.« Das tat Dieter auch,
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