Der große deutsche Märchenschatz
doch nicht gleich ihr Tod sein!«, sprach er bei sich, »und fort soll sie mir auch nicht können«, denn er verschloss vorsichtig alle Türen und Fenster. Kaum hatte er die Schachtel geöffnet und sie das Kleid hastig ergriffen und umgeworfen, so war sie sogleich ein Schwan und flog durch den Ofen zum Schornstein hinaus. Da ergriff den Jungen ein unendlicher Schmerz. Er lief hinaus, sah dem Vogel nach und eilte in einem fort bis in den Wald zu dem alten Manne und klagte ihm seinen Jammer. »Ist sie nicht hier«, sprach er zuletzt, »so sage mir, wo ich sie finden kann. Ich will sie suchen bis ans Weltende, denn ich habe sie gar zu lieb!« Da sagte der Alte: »Sie ist weit weg auf einer Insel über dem Meer und wird von einem Drachen mit vielen Häuptern bewacht, und dahin ist schwer hinzukommen. Wenn du aber auch hingelangen solltest, wird dich der Drache umbringen!«
Aber der Junge lieà sich nicht abschrecken. Er nahm alle seine Kleider und Schuhe mit und wanderte sieben Jahre lang in einem fort und hatte schon alle Kleider und Schuhe zerrissen und konnte vor Müdigkeit nicht weiter. Aber noch war weit und breit kein Meer zu sehen. Er fiel an einem Hügel nieder und gedachte schon da zu sterben. Da hörte er nur einmal in der Ferne einen Lärm, der kam immer näher und näher.
Endlich sah er drei mächtige Hünen, welche einander hin und her zerrten. Er fragte sie alsbald, was Ursache ihr Streit hätte. »Oh«, sagten sie, »es handelt sich um das Kostbarste in der Welt, um einen Mantel, der unsichtbar macht den, der ihn trägt, um einen Hut, der überall hinführt den, der ihn aufsetzt, und um ein Schwert, womit der alles besiegen kann, der es schwingt. Wer diese drei Stücke besitzt, kann die schönste Jungfrau, die auf der Insel über dem Meer gefangen liegt, erretten und mit ihr das gröÃte Königreich erwerben.« Der Junge freute sich auf diese Nachricht wieder in seinem Herzen und hegte Hoffnung. »Wenn es euch recht ist, so will ich den Streit entscheiden. Bringt her jene Stücke und kämpfet ihr dann miteinander.« Die einfältigen Hünen brachten sogleich Mantel, Hut und Schwert zu ihm hin und fielen nun einander in die Haare. Der Junge ergriff schnell das Schwert, warf den Mantel um und setzte den Hut auf und sprach: »Wäre ich doch nur gleich auf der Insel!« Husch! war er fort, und die dummen Hünen hatten das Nachsehen.
Als der Junge auf der Insel ankam, legte er Hut und Mantel ab, nahm nur das Schwert und ging auf die Burg los. Der Drache sonnte sich eben vor derselben, und die schöne Jungfrau musste ihn lausen. Nur einmal roch der Drache Menschenfleisch, da brauste er auf und ringelte sich vor Wut. Aber der Junge kam unerschrocken heran und hieb ihm auf einmal alle Häupter ab. Er hüllte sich darauf schnell wieder in seinen Mantel, eilte ins Schloss, nahm die Schachtel mit den Kleidern und warf sie ins Meer, dann legte er den Mantel ab und zeigte sich der Jungfrau, seiner Braut, und die erkannte ihn auch gleich und war nun über die MaÃen froh. Der Junge zog mittels des Wunschhutes schnell zu seiner Mutter und brachte sie auch nach der fernen Insel in die Drachenburg. Dann feierte er mit seiner Braut in Lust die Hochzeit und war König und Herr über alles Land und alle Schätze, welche der Drache besessen hatte.
Der Wunderbaum
Der Hirtenknabe â ob er gerade der Sohn des armen Mannes war, den unser Herr Christus und Petrus gesegnet hatten, weià ich nicht â erblickte eines Tages, als er die Schafe weidete, auf dem Felde einen Baum, der war so schön und groÃ, dass er lange Zeit voll Verwunderung dastand und ihn ansah. Aber die Lust trieb ihn hinzugehen und hinaufzusteigen. Das wurde ihm auch sehr leicht, denn an dem Baume standen die Zweige hervor wie Sprossen an einer Leiter. Er zog seine Schuhe aus und stieg und stieg in einem fort neun Tage lang. Siehe da kam er nur einmal in ein weites Feld, da waren viele Paläste von lauter Kupfer, und hinter den Palästen war ein groÃer Wald mit kupfernen Bäumen, und auf dem höchsten Baume saà ein kupferner Hahn. Unter dem Baume war eine Quelle von flüssigem Kupfer, die sprudelte immerfort, und das war das einzige Getöse. Sonst schien alles wie tot, und niemand war zu sehen, und nichts regte und rührte sich.
Als der Knabe alles gesehen, brach er sich ein Zweiglein von einem Baum, und weil seine
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