Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
nährte in der Öffentlichkeit den Verdacht, daß der Raub des Goldes auf der Strecke London-Folkestone erfolgt sein mußte. Und als die von der South Eastern Railway beauftragten Detektive angebliche Beweise dafür vorlegten, daß der Raub von französischen Verbrechern ausgeführt worden war – eine Beschuldigung, die sich bald als haltlos herausstellte –, erhärtete sich dieser Verdacht zur Gewißheit. Von da an war in der Presse nur noch vom »großen Eisenbahnraub« die Rede.
Im Verlauf der Monate Juli und August 1855 blieb der große Eisenbahnraub in den Schlagzeilen und ständiges Tagesgespräch. Obwohl niemand sich so recht vorstellen konnte, wie das Verbrechen ausgeführt worden war, glaubte man doch bald allgemein, daß nur Engländer eine so schwierige und kühne Tat vollbracht haben konnten.
Die vorher verdächtigten Franzosen wurden jetzt als zu beschränkt und hasenherzig hingestellt, ein solches Wagestück zu planen oder gar in die Tat umzusetzen.
Als die Polizeibehörden in New York Ende August bekanntgaben, sie hätten die Räuber gefaßt, und es seien Amerikaner, reagierte die englische Presse mit fast unverhohlener Entrüstung und ärgerlichem Unglauben. Und tatsächlich stellte sich einige Wochen später heraus, daß die New Yorker Polizei sich geirrt hatte. Ihre Räuber hatten nie einen Fuß auf britischen Boden gesetzt, sondern waren vielmehr, wie ein Korrespondent es ausdrückte, »von jener sonderbaren Geistesverfassung, die einen Menschen dazu bringen kann, sich eines vielbeachteten Ereignisses zu bemächtigen, auch wenn es sich um ein übles Verbrechen handelt, um die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit auf sich zu ziehen und so ihr krankhaftes Verlangen, im Rampenlicht zu stehen, jedenfalls für einen Augenblick zu befriedigen.«
Die englischen Tageszeitungen veröffentlichten jede kleinste Neuigkeit, jedes Gerücht und jede Theorie über den Raub, und bisweilen wurden andere Geschichten und Berichte so hingebogen, daß man sie mit dem Raub in Verbindung bringen konnte. Um ein Beispiel zu nennen: Als Königin Victoria im August zu einem Staatsbesuch nach Paris reiste, stellte die Presse Vermutungen darüber an, ob und inwieweit der Raub und seine Begleitumstände sich möglicherweise auf ihren Empfang in der französischen Kapitale auswirkten. (Überhaupt nicht, wie sich zeigte.) Es ließ sich indes nicht länger verheimlichen, daß in den Sommermonaten keine neuen Erkenntnisse gewonnen worden waren. Folglich erlahmte nach und nach das Interesse der Öffentlichkeit. Vier Monate lang hatte der große Eisenbahnraub die Phantasie der Menschen beschäftigt. Im Verlauf dieser Zeit hatte sich ein beachtlicher Stimmungswandel vollzogen: die ursprüngliche Feindseligkeit gegenüber den Franzosen, von denen man angenommen hatte, sie hätten das Gold irgendwie mit leichter Hand und heimtückisch gestohlen, war nach und nach dem Verdacht gewichen, führende Gestalten der englischen Finanzund Industriewelt, die man bestenfalls grober Unfähigkeit und schlimmstenfalls als die wirkli chen Täter bezichtigen konnte, hätten das Gold an sich gebracht. Und schließlich hatte sich so etwas wie Bewunderung für den Einfallsreichtum und den Wagemut jener englischen Spitzbuben herauskristallisiert, die diesen tollen Streich geplant und ausgeführt haben mußten – auf welche Weise auch immer.
Da es aber keine neuen Sensationen zu vermelden gab, wurde die Öffentlichkeit allmählich ungeduldig. Man hatte eine muntere Orgie franzosenfeindlicher Gefühle ausgekostet, hatte die Übeltäter verdammt und bewundert, hatte sich über die Schwächen von Bankund Eisenbahndirektoren, von Diplomaten und Polizisten lustig gemacht. Nun aber verlangte das Publikum dringend danach, daß sein Glaube an die Zuverlässigkeit von Banken, Eisenbahnen, Regierung und Polizei wiederhergestellt wurde. Kurz gesagt, man wollte, daß die Täter nun endlich hinter Schloß und Riegel kamen – und zwar schnell.
Die Schuldigen wurden aber nicht gefaßt. Von offizieller Seite wurde gelegentlich, wenn auch mit geringerer Überzeugungskraft behauptet, es gebe »neue Anhaltspunkte«.
Ende September wurde von anonymer Seite behauptet, Mr. Harranby von Scotland Yard habe von dem bevorstehenden Verbrechen gewußt, es aber nicht verhindern können. Mr. Harranby dementierte diese Gerüchte mit aller Entschiedenheit. Dennoch wurden Rufe laut, er solle seinen Abschied nehmen. Die Huddleston & Bradford-Bank, die sich in den
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