Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
Sommermonaten eines leichten Geschäftsaufschwungs hatte erfreuen können, mußte jetzt einen leichten Rückgang hinnehmen. Die Zeitungen mußten feststellen, daß Schlagzeilen über den Raub sich nicht mehr auf den Verkauf auswirkten.
Im Oktober 1855 interessierte sich in England kein Mensch mehr für den großen Eisenbahnraub. Der Kreis hatte sich geschlossen: Aus dem Ereignis, das die Menschen so lange fasziniert hatte, war ein nebulöser, lästiger Zwischenfall geworden, den fast jeder möglichst rasch vergessen wollte.
V.
V erhaftung und P r ozeß
Nove m b er 1856 bis August 1857
Feuer w erk und seine Folgen
Der 5. November, der Tag der Pulververschwörung oder GuyFawkes-Tag, war in England schon seit 1605 ein nationaler Feiertag. Die anläßlich dieses Tages abgehaltenen Feiern aber, so hieß es 1856 in News, »dienen, wie sich in den letzten Jahren gezeigt hat, nicht mehr allein der Wohltätigkeit, sondern ebenso dem Vergnügen. Hier ist von einem löblichen Beispiel zu berichten. Am Mittwoch abend hat auf dem Gelände des Waisenhauses der Seemannschaft in der Bow Road ein großes Feuerwerk stattgefunden, dessen Reinerlös dem Fonds dieser Einrichtung zugeflossen ist. Illuminiert wurde das Gelände etwa so, wie in Vauxhall üblich, und es spielte ein Orchester. Auf dem hinteren Teil des Grundstücks hatte man einen Galgen errichtet, an dem eine Strohpuppe, die den Papst darstellte, aufgehängt war. Eine Reihe von Teerfässern umgab diese Nachbildung. Sie wurden zu gegebener Zeit angezündet und ergaben ein hell loderndes Feuer. Zahlreiche Menschen waren zusammengeströmt, um dem Schauspiel beizuwohnen, und der Erlös dieses Tages muß dem Fonds dieser wohltätigen Einrichtung neue Mittel in erfreulicher Höhe gebracht haben.«
Wo Zerstreuung geboten wurde und viele Menschen zusammenströmten, kamen natürlich auch Taschendiebe, Beutelschneider und Dirnen auf ihre Kosten, und die Polizei hatte an jenem Abend auf dem Gelände des Waisenhauses alle Hände voll zu tun. Im Verlauf des Abends wurden von der Metropolitan Police nicht weniger als dreizehn »Herumtreiber, Landstreicher und Diebe« festgenommen, darunter eine junge Frau, die man beschuldigte, einen angetrunkenen Herrn bestohlen zu haben. Die junge Frau wurde von einem gewissen Konstabler Johnson festgenommen. Der Vorfall war typisch.
Konstabler Johnson, ein Mann von dreiundzwanzig, patrouillierte gerade auf dem Gelände des Waisenhauses, als er in dem grellen Lichtschein der am Himmel explodierenden Feuerwerkskörper eine Frau entdeckte, die sich über einen reglos am Boden liegenden Mann beugte. Da Johnson befürchtete, dem Mann könne unwohl geworden sein, eilte er zu Hilfe, doch als er näher kam, ergriff die Frauensperson die Flucht. Konstabler Johnson machte sich sofort an die Verfolgung und konnte sie schon nach wenigen Schritten festnehmen. Sie war über ihren Rocksaum gestolpert und hingefallen.
Als er sie näher betrachtete, stellte er fest, daß es sich »um eine Weibsperson von lüsternem Aussehen und sittenlosem Gebaren« handelte. Sie hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit den Betrunkenen bestohlen, gehörte also zur untersten Schicht von Verbrechern überhaupt: zu den Fledderern.
Konstabler Johnson verhaftete sie auf der Stelle.
Die dreiste Person stemmte die Hände in die Hüften und starrte ihn herausfordernd an. »Ich habe keine Sore bei mir«, erklärte sie, und diese Worte müssen Konstabler Johnson sehr nachdenklich gemacht haben. Er sah sich einem ernsten Dilemma gegenüber.
Zu Zeiten der Königin Victoria gehörte es sich für einen Mann, daß er Frauen, und zwar auch solche, die zur »niedrigsten Sorte« gehörten, äußerst behutsam behandelte und auf die Zartheit der weiblichen Natur Rücksicht nahm. Die weibliche Natur, so hieß es in einem Polizeihandbuch jener Zeit, »mit ihrem heiligen Quell der Gefühle, ihrem erhabenen Reichtum an Mütterlichkeit, ihrer feinen Empfindsamkeit und großen Zerbrechlichkeit, also mit all jenen Eigenschaften, die das wahre Wesen des Weiblichen ausmachen, hat ihre Wurzeln in den biologischen und physiologischen Prinzipien, die die Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht bestimmen. Es darf also nie vergessen werden, daß dieses wahre Wesen des Weiblichen jeder Angehörigen dieses Geschlechts zu eigen ist und von jedem Polizisten respektiert werden muß, selbst dann, wenn die äußere Erscheinung bestimmter gemeiner Frauenspersonen auf das Fehlen besagter weiblicher
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