Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
das Gold. Am frühen Nachmittag jedoch stellte sich heraus, daß die Überfahrt ohne Zwischenfälle verlaufen war.
Aber sonst herrschte völlige Unklarheit.
Die Pariser Bank, die französischen Eisenbahnen, die britische Reederei, die South Eastern Railway und die Huddleston & Bradford-Bank jagten jetzt Kabel an alle beteiligten Parteien los. Bald wußte niemand mehr ein noch aus. Im weiteren Verlauf des Tages wurde der Tonfall der Kabel immer bissiger und ihr Inhalt immer grotesker. Die Auseinandersetzung erreichte einen vorläufigen Höhepunkt, als der Niederlassungsleiter der South Eastern Railway in Folkestone dem ebenfalls in Folkestone residierenden Leiter der Britannic Steam Packet Company telegrafierte: QUI EST M. VERNIER? Darauf schoß der Mann der Schiffahrtsgesellschaft zurück: IHRE LÄCHERLICHEN UNTERSTELLUNGEN WERDEN NICHT OHNE FOLGEN BLEIBEN.
Zur Teezeit häuften sich in London die Telegramme und Kabel auf den Schreibtischen der führenden Männer von Huddleston & Bradford. Botenjungen wurden zu den Privatwohnungen der Herren geschickt, um deren Ehefrauen davon in Kenntnis zu setzen, daß die Ehemänner infolge dringender
Geschäfte nicht zum Dinner kommen würden.
Die frühere Atmosphäre unerschütterlicher Ruhe und die Verachtung für französische Unfähigkeit schwanden jetzt dahin und wichen dem zunehmenden Verdacht, es könne mit dem Gold tatsächlich etwas passiert sein. Es wurde auch immer deutlicher, daß die Franzosen sich genauso große Sorgen machten wie die Engländer. Monsieur Bonnard höchstpersönlich hatte den Nachmittagszug nach Ostende genommen, um sich an Ort und Stelle einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Wenn Monsieur Bonnard sich zu einem solchen Schritt entschloß, dann war das zumindest überaus ungewöhnlich.
Abends um sieben, als sich die meisten Angestellten der Londoner Bank auf den Heimweg machten, war die Stimmung der leitenden Herren eindeutig pessimistisch. Sir William Huddleston zeigte sich gereizt. Mr. Bradfords Atem roch nach Gin. Mr. Fowler war bleich wie ein Gespenst. Und Mr. Trents Hände zitterten. Etwa um sieben Uhr schlug die Stimmung um. Die am Vortag von den französischen Zollbeamten abgezeichneten Papiere trafen ein, und daraus ging hervor, daß am 22. Mai um fünf Uhr nachmittags ein bevollmächtigter Vertreter von Bonnard et Fils, ein gewisser Raymond Vernier, die Übernahme von neunzehn versiegelten Kisten der Firma Huddleston & Bradford durch Unterschrift bestätigt hatte. Der Deklaration zufolge enthielten die Kisten zwölftausend Pfund Sterling in Goldbarren.
»Das ist ihr Todesurteil!« rief Sir William und schwenkte das Papier in der Luft. »Sollte es zu irgendwelchen Unregelmäßigkeiten gekommen sein, dann allein auf französischer Seite.« Dies war allerdings eine etwas überspitzte Darstellung der rechtlichen Situation, wie er selbst wußte.
Kurz darauf erhielt Sir William ein langes Kabel aus Ostende:
IHRE SENDUNG ENTHALTEND NEUNZEHN (19) VERSIEGELTE KISTEN GESTERN 22 MAI 17.00 UHR AN BORD SCHIFF ARLINGTON IN OSTENDE EINGETROFFEN BESAGTE SENDUNG VON UNSEREM VERTRETER OHNE OEFFNUNG DER SIEGEL DIE UNVERSEHRT SCHIENEN UEBERNOMMEN SENDUNG NACHT 22 MAI UNSERER GEWOHNHEIT GEMAESS IN SICHEREM SAFE IN OSTENDE VERWAHRT KEIN ANZEICHEN FUER VERSUCHTES AUFBRECHEN DES SAFES WACHMANN CHARAKTER VERLAESSLICH MORGEN 23 MAI UNSER VERTRETER SIEGEL GEOEFFNET ENTDECKEND IHRE SENDUNG ENTHALTEND BLEIKUGELN FUER SCHUSSWAFFEN ABER KEIN GOLD VORLAEUFIGE UNTERSUCHUNG BETREFFEND HERKUNFT BLEIKUGELN WEISEN AUF HERSTELLUNG IN ENGLAND HIN NEUERLICHE UEBERPRUEFUNG DER AUFGEBROCHENEN VERSIEGELUNG DEUTET AUF VORHERGEHENDES OEFFNEN HIN UND AUF NEUERLICHES VERSIEGELN FACHMAENNISCHER ART KEINEN VERDACHT ERREGEND BEI GEWOEHNLICHER INSPEKTION SOFORTIGE BENACHRICHTIGUNG DER POLIZEIBEHOERDEN UND REGIERUNG IN PARIS ERINNERN DARAN ALLES BRITISCHEN URSPRUNGS BRITISCHE EISENBAHNEN BRITISCHES DAMPFSCHIFF DURCHGEHENDE BEWACHUNG DURCH BRITISCHE STAATSBUERGER BITTE DRINGEND BRITISCHE BEHOERDEN ZU BENACHRICHTIGEN ERWARTE IHRE AUFKLAERUNG DIESES WAHRHAFT RAETSELHAFTEN VORFALLS
LOUIS BONNARD, PRAESIDENT
BONNARD ET FILS, PARIS AUFGABEORT: OSTENDE
Sir William soll auf dieses Kabel mit »einem derben Kraftausdruck« reagiert haben, der »eine Folge der Anspannung und der vorgerückten Stunde« war. Er soll sich ausgiebig über das französische Volk, die französische Kultur und die hygienischen Gewohnheiten der Franzosen ausgelassen haben. Und Mr. Bradford äußerte sich
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