Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
noch giftiger über französische Perversitäten. Mr. Fowler war offenbar betrunken, und Mr. Trent litt unter Atembeklemmungen.
Es war schon zehn Uhr abends, als die Herren sich endlich so weit beruhigt hatten, daß Sir William zu Mr. Bradford sagen konnte: »Ich werde den Minister benachrichtigen. Benachrichtigen Sie inzwischen bitte Scotland Yard.«
Die Ereignisse der folgenden Tage verliefen, wie es in einem solchen Fall zu erwarten war. Die Engländer verdächtigten die Franzosen, und die Franzosen verdächtigten die Engländer. Jeder verdächtigte die Verantwortlichen der britischen Eisenbahngesellschaft, die wiederum die Verantwortlichen der britischen Schiffahrtsgesellschaft verdächtigten, die ihrerseits den französischen Zoll verdächtigten.
Britische Polizisten in Frankreich und französische Polizisten in England arbeiteten zusammen mit Privatdetektiven, die von den beteiligten Banken, der Bahnlinie und der Schiffahrtsgesellschaft beauftragt worden waren. Jeder setzte eine Belohnung für Hinweise aus, die zur Ergreifung der Täter führen könnten, worauf Informanten und Zuträger auf beiden Seiten des Kanals rasch mit einer verwirrenden Fülle von Hinweisen und Gerüchten reagierten.
Die verschiedensten Theorien über das Abhandenkommen der Goldsendung wurden aufgestellt, angefangen von der simplen Vermutung, ein paar französische oder englische Banditen hätten da einen Zufallstreffer gemacht, bis hin zu der gewagten Spekulation, höchste französische oder englische Regierungsbeamte hätten ein ausgeklügeltes Komplott ersonnen, um sich mit einem machiavellistischen Schachzug sowohl die eigenen Taschen zu füllen wie auch die Beziehungen zu den militärischen Verbündeten zu trüben. Sogar Lord Cardigan, der große Kriegsheld, äußerte die Vermutung, »es müsse sich um eine kluge Verbindung von Habgier und Politik handeln«.
Am weitesten jedoch war zu beiden Seiten des Kanals die Theorie verbreitet, daß die Tat das Werk von Männern sein müsse, die auf irgendeine Weise mit dem Transport zu tun gehabt hatten. Die meisten Verbrechen erklärten sich auf ähnliche Weise. Und in diesem Fall lag die Vermutung besonders nahe, daß Eingeweihte mit Zugang zu allen nötigen Informationen zusammengearbeitet und sich gegenseitig geholfen hatten. Die Schwierigkeit und die unbemerkte Durchführung der Tat ließen kaum einen anderen Schluß zu. Folglich wurde daraufhin jeder, der in irgendeiner Form mit dem Transport des Krim-Goldes zu tun gehabt hatte, einer peinlich genauen Überprüfung unterzogen und von den Behörden verhört. Der Eifer der Polizei, sich Informationen zu beschaffen, führte zu den unwahrscheinlichsten Maßnahmen: So wurde etwa der zehnjährige Enkel des Hafenmeisters von Folkestone tagelang von einem Polizisten in Zivil beschattet – und das aus Gründen, an die sich später niemand so recht erinnern konnte. Vorkommnisse dieser Art erhöhten nur die allgemeine Verwirrung. Die endlosen Verhöre immer neuer Personen zogen sich über Monate hin, und jede neue Spur und jeder neue Hinweis wurde von einer faszinierten, auf Sensationen begierigen Presse aufgegriffen.
Bis zum 17. Juni, also fast einen Monat nach dem Raub, machte die Fahndung keinerlei Fortschritte. An diesem Tag aber wurden die in Ostende, auf dem britischen Dampfer und die bei der South Eastern Railway verwendeten Safes auf Drängen der französischen Behörden an ihre jeweiligen Hersteller in Paris, Hamburg und London zur Inspektion geschickt. Die Schlösser sollten ausgebaut und untersucht werden. Bei Chubb stellte man fest, daß das Innere der Schlösser verdächtige Kratzer aufwies und Spuren von Eisenfeilspänen und Reste von Schmierfett und Wachs enthielt. An den anderen Safes hatte sich allem Anschein nach niemand zu schaffen gemacht.
Mit dieser Entdeckung rückte der Wachmann Burgess wieder in den Mittelpunkt des Interesses. Man hatte ihn schon vorher verhört, aber wieder entlassen. Am 19. Juni ließ Scotland Yard einen Haftbefehl gegen ihn ausstellen, aber am gleichen Tag noch verschwand der Mann mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, ohne eine Spur zu hinterlassen. In den folgenden Wochen wurde vergeblich nach ihm gefahndet.
Da erinnerte man sich, daß bei der South Eastern Railway nur eine Woche vor dem Diebstahl der Goldbarren schon einmal etwas aus dem Packwagen gestohlen worden war.
Der naheliegende Schluß, daß die Eisenbahngesellschaften ihre Aufsichtspflicht nur höchst nachlässig erfüllten,
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