Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
Einladung nach leichtem Zögern an.
Elizabeth Trent wurde zu dem Prozeß gegen Pierce nicht als Zeugin geladen. Offenbar wollte man ihre Gefühle nicht verletzen. Zeitungsberichte der damaligen Zeit geben uns aber ein genaues Bild von ihrem Äußeren. Sie war mittelgroß, mit einem etwas dunkleren Teint, als Mode war. Ihre Gesichtszüge waren, wie ein Beobachter schrieb, »zwar ebenmäßig, aber doch nicht so, daß man sie hübsch nennen könnte«. Journali sten neigten damals – wie heute – dazu, die Schönheit einer in einen Skandal verwickelten Frau zu übertreiben. Das Fehlen von Komplimenten über die Erscheinung Miss Trents läßt also wohl den Schluß zu, daß sie einen »unvorteilhaften Anblick« bot.
Sie hatte offensichtlich nur wenige Verehrer, wenn man einmal von den auffällig ehrgeizigen Burschen absieht, die nur zu gern die Tochter eines Bankiers geheiratet hätten.
Diese wies sie aber standhaft zurück, was ihr Vater wohl nur mit gemischten Gefühlen billigte. Von Pierce muß sie aber beeindruckt gewesen sein, diesem »schneidigen, unerschrockenen, gutaussehenden Mannsbild, das soviel Charme versprühte«.
Aus allen Berichten der damaligen Zeit geht hervor, daß Pierce von der jungen Dame gleichermaßen angetan gewesen war. Die Zeugenaussage eines Dienstboten schildert ihre erste Begegnung. Diese Darstellung liest sich, als stammte sie aus einem Roman der damaligen Zeit.
Mr. Pierce nahm den Tee zusammen mit Mr. und Mrs. Trent, »einer stadtbekannten Schönheit«, auf dem Rasen hinter dem Haus ein. Sie sahen zu, wie Maurer im Hintergrund eine Ruine errichteten, während ein Gärtner in der Nähe malerische Unkräuter anpflanzte. Es waren die letzten Ausläufer der fast hundertjährigen englischen Begeisterung für Ruinen, aber noch immer ließ sich jeder, der es sich leisten konnte, auf seinem Grundstück eine ansehnliche Ruine errichten.
Pierce beobachtete die Arbeiter eine Weile. »Was soll es werden?« wollte er wissen.
»Wir haben gedacht, eine Wassermühle«, sagte Mrs. Trent.
»Es wird ein bezaubernder Anblick werden, besonders mit dem rostigen Mühlrad. Finden Sie nicht auch?«
»Dieses rostige Rad kostet uns ein Vermögen«, grollte Mr. Trent.
»Es wird aus schon vorher verrostetem Material hergestellt, was uns eine Menge Zeit und Mühe erspart«, fügte Mrs. Trent hinzu. »Wir müssen natürlich noch darauf warten, daß das Unkraut um die Ruine herum in die Höhe schießt, ehe das Ganze richtig aussieht.«
In diesem Augenblick schwebte Elizabeth in einem weißen Kleid heran. »Ah, mein Tochterherz«, sagte Mr. Trent und erhob sich. Mr. Pierce tat es ihm nach. »Darf ich bekannt machen, Mr. Edward Pierce, meine Tochter Elizabeth.«
»Ich muß gestehen, ich wußte gar nicht, daß Sie eine Tochter haben«, sagte Pierce. Er verneigte sich tief, ergriff ihre Hand, machte Anstalten, diese zu küssen, zögerte aber. Das Erscheinen der jungen Frau schien ihn sehr zu verwirren.
»Miss Trent«, sagte er und gab ihre Hand unbeholfen frei.
»Sie sehen mich überrascht!«
»Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen soll oder nicht«, erwiderte Miss Trent, die sich rasch am Teetisch niederließ und die Hand nach der Teetasse ausstreckte, die ihr sogleich gereicht wurde.
»Durchaus als Kompliment, versichere ich Ihnen«, gab Mr. Pierce zurück, wobei er, wie berichtet wird, tief errötete.
Miss Trent fächelte sich kühle Luft zu. Mr. Trent räusperte sich. Mrs. Trent, die vollkommene Hausfrau, nahm ein Tablett mit Biscuits und sagte: »Möchten Sie nicht eines davon versuchen, Mr. Pierce?«
»Mit Freuden, Madam«, erwiderte Mr. Pierce, und keiner der Anwesenden bezweifelte die Aufrichtigkeit seiner Worte.
»Wir sprachen gerade über Ruinen«, sagte Mr. Trent, vielleicht eine Spur zu laut. »Aber vorher hat Mr. Pierce uns von seinen Reisen ins Ausland erzählt. Er ist übrigens erst vor kurzem aus New York zurückgekehrt.«
Das war ein Stichwort. Seine Tochter nahm es geschickt auf.
»Ach wirklich?« sagte sie und fächelte sich heftiger. »Wie unerhört aufregend.«
»Ich fürchte, Sie stellen es sich aufregender vor, als es in Wahrheit ist«, erwiderte Mr. Pierce. Er wich dem Blick der jungen Dame so auffällig aus, daß jedermann seine scheue Zurückhaltung bemerkte. Sie hatte es ihm offensichtlich angetan. Der letzte Beweis dafür war erbracht, als er sich nunmehr ganz Mrs. Trent zuwandte. »Es ist eine Stadt wie jede andere auf der Welt, um ehrlich zu sein. Sie
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