Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
man ißt sie roh?« fragte Mrs. Trent und rümpfte ihre kleine Nase.
»In der Tat, Madam. So wie wir eine rohe Auster verspeisen, verzehren diese Jäger den Dünndarm, und das, während er noch die Körperwärme des soeben getöteten Tieres hat.«
»Grundgütiger Himmel«, sagte Mrs. Trent.
»Damit nicht genug«, fuhr Pierce fort. »Es kommt gelegentlich vor, daß zwei Männer ein und dasselbe Tier erlegt haben. Kaum liegt die Bestie tot auf der Erde, macht sich jeder der beiden über ein Ende des so hochgeschätzten Dünndarms her. Und jeder der beiden Jäger versucht, die Delikatesse schneller hinunterzuschlingen als der andere.«
»Himmel«, sagte Miss Trent, die den Fächer jetzt noch heftiger schwenkte.
»Das ist noch nicht alles«, sagte Pierce. »In ihrer gierigen Hast schlingen die Büffeljäger ihr Teil oft unzerkaut hinunter. Das ist sogar ein bekannter Trick. Der Gegner aber, der diese List durchschaut, zieht oft dem anderen den unverdauten Dünndarm wieder aus dem Mund, etwa so, wie ich eine Schnur durch meine Finger ziehen würde. Und so kann es vorkommen, daß ein Mann verschlingt, was ein anderer bereits gegessen hat, wenn es gestattet ist, so deutlich zu werden.«
»O du meine Güte«, sagte Mrs. Trent, die recht blaß geworden war.
Mr. Trent räusperte sich. »Bemerkenswert.«
»Wie kurios«, sagte Miss Trent tapfer, aber mit bebender Stimme.
»Sie müssen mich bitte entschuldigen«, sagte Mrs. Trent und erhob sich.
»Meine Liebe«, sagte Mr. Trent.
»Madam, ich hoffe, mein Bericht hat Sie nicht zu sehr angegriffen«, sagte Mr. Pierce, der sich gleichfalls erhob.
»Ihre Erzählungen sind wirklich höchst bemerkenswert«, sagte Mrs. Trent und wandte sich zum Gehen.
»Meine Liebe«, wiederholte Mr. Trent und eilte ihr nach.
So kam es, daß Mr. Edward Pierce und Miss Elizabeth Trent für kurze Zeit auf dem Rasen hinter dem Haus alleingelassen wurden. Es wurde beobachtet, daß sie ein paar Worte miteinander wechselten. Der Inhalt ihrer Unterhaltung ist nicht bekannt. Miss Trent bekannte später einer Zofe gegenüber, sie habe Mr. Pierce in seiner »rauhen, aber geraden Art ganz faszinierend« gefunden. Unter der Dienerschaft herrschte Einigkeit darüber, daß die junge Miss Elizabeth jetzt das Wertvollste besaß, was man besitzen konnte: »Aussichten«.
Eine Frau am Galgen
Die Hinrichtung der berüchtigten Mörderin Emma Barnes am 28. August 1854 war Stadtgespräch in London. Bereits am Abend vor der Exekution bildeten sich vor den hohen Granitmauern des Gefängnisses von Newgate die ersten Menschenansammlungen. Die Leute wollten hier die Nacht verbringen, um sich für das Spektakel am folgenden Morgen einen guten Platz zu sichern. Am selben Abend wurde auch der Galgen gebracht und von den Gehilfen des Henkers errichtet. Das Hämmern war bis tief in die Nacht zu hören.
Die Eigentümer der in der Nähe gelegenen Pensionen und Logierhäuser hatten das Glück, ihre Zimmer an jene besseren Damen und Herren vermieten zu können, die sich zu einer
»Galgen-Party« zusammenfanden und ein Zimmer mit guter Sicht auf die Hinrichtungsstätte suchten. Mrs. Edna Molloy, eine tugendhafte Witwe, wußte sehr genau, was ihre Räume wert waren, und als ein gewandt auftretender Herr namens Pierce den besten davon zu mieten wünschte, stellte sie eine harte Forderung: 25 Guineen für diese eine Nacht.
Das war eine beachtliche Summe Geldes. Von diesem Betrag konnte Mrs. Molloy ein ganzes Jahr bequem leben.
Aber sie ließ sich nicht beirren, denn sie wußte auch, was dieser Betrag für einen Herrn wie Mr. Pierce darstellte – es war der Lohn eines Butlers für sechs Monate oder der Preis eines oder zweier guter Damenkleider. Und Mr. Pierce empfand diesen Preis offenbar als nicht zu hoch. Jedenfalls zählte er ihr den Betrag auf der Stelle in Gold-Guineen hin.
Mrs. Molloy wollte es nicht riskieren, ihn zu beleidigen, indem sie in seiner Gegenwart auf die Münzen biß. Sie würde das nachholen, sobald sie allein war. Mit Gold-Guineen konnte man nicht vorsichtig genug sein, und sie war mehr als einmal hereingelegt worden, sogar von feinen Herren.
Zu ihrer großen Erleichterung waren die Münzen echt. So sah sie kaum hin, als Mr. Pierce und seine Gesellschaft später am Tag zu dem gemieteten Raum hinaufgingen. Die Gesellschaft bestand aus zwei weiteren Männern und zwei Frauen, alle auf das eleganteste gekleidet. Mrs. Molloy konnte aber am Akzent hören, daß die Männer keine Herren und daß die Frauen
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