Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
nicht besser waren, als sie aussahen, trotz der Weidenkörbe und der Weinflaschen, die sie mit sich führten.
Nachdem die Gesellschaft den Raum betreten hatte und die Tür ins Schloß fiel, machte Mrs. Molloy sich nicht die Mühe, am Schlüsselloch zu lauschen. Diese Leute würden ihr keinen Ärger bereiten, da war sie sicher.
Pierce trat ans Fenster und blickte auf die Menschenmenge hinunter, die mit jeder Minute größer wurde. Der Platz war dunkel. Nur die Fackeln am Galgengerüst warfen ein flackerndes Licht. In dem heißen, unheilverkündenden Schein sah Pierce, wie der Querbalken und die Falltür hergerichtet wurden.
»Schafft er nie«, sagte Agar hinter ihm.
Pierce drehte sich um. »Er muß es schaffen, mein Junge.«
»Er ist der beste Schlangenjunge im Gewerbe, der beste, von dem man je gehört hat. Aber da kommt er nie raus«, sagte Agar und zeigte mit dem Daumen auf das Gefängnis.
Jetzt sprach der zweite Mann, Barlow, ein untersetzter Mann mit einem zerfurchten Gesicht, auf dessen Stirn ein Messer eine lange weiße Quernarbe hinterlassen hatte, die er gewöhnlich unter der Krempe seines Hutes verbarg.
Barlow war ein bekehrter Taschendieb, der sich auf Straßenraub verlegt hatte. Pierce hatte ihn vor einigen Jahren als Kutscher angeheuert. Alle Straßenräuber waren im Grunde Raufbolde, und einem Einbrecher wie Pierce konnte das nur recht sein. Er brauchte einen Mann, der Schmiere stand und die Kutsche für einen schnellen Rückzug bereithielt, und wenn es sein mußte, ließ Barlow sich auch gern auf eine Rauferei ein. Außerdem war er Pierce treu ergeben. Er stand jetzt schon seit fast fünf Jahren in seinen Diensten.
Barlow zog die Stirn in Falten und sagte: »Wenn es überhaupt zu machen ist, wird er’s schaffen. Sauber-Willy schafft’s, wenn es überhaupt einer schafft.« Er sprach langsam und machte den Eindruck eines Mannes, der seine Gedanken bedächtig formt. Im Handeln allerdings war er schnell. Pierce wußte das.
Pierce betrachtete die Frauen, die Liebchen von Agar und Barlow – und zugleich deren Helferinnen. Pierce kannte ihre Namen nicht und wollte sie auch nicht wissen. Allein schon der Gedanke, daß sie bei dieser Gelegenheit anwesend sein mußten, hatte ihm nicht behagt – in den vergangenen fünf Jahren hatte er Barlows Liebchen nicht einmal zu Gesicht bekommen –, aber er hatte keine Möglichkeit gesehen, dieses Zusammentreffen zu vermeiden. Barlows Liebchen war offenkundig eine Säuferin: ihren nach Gin stinkenden Atem konnte man quer durchs Zimmer riechen. – Agars Liebchen war nicht viel besser, aber immerhin nüchtern.
»Haben Sie die Sachen mitgebracht?« fragte Pierce.
Agars Liebchen öffnete einen Picknickkorb, der einen Schwamm, medizinischen Puder und Bandagen enthielt sowie ein sorgfältig zusammengelegtes Kleid. »Alles, was Sie mir aufgetragen haben, Sir.«
»Das Kleid ist klein?«
»Ja, Sir. Kaum mehr als ein Kinderkleidchen, Sir.«
»Gut«, sagte Pierce und trat wieder ans Fenster, um auf den Platz hinunterzusehen. Dem Galgen und der anwachsenden Menschenmenge schenkte er keinen Blick. Er starrte nur zu den Mauern des Gefängnisses von Newgate hinüber.
»Hier ist das Abendessen, Sir«, sagte Barlows Liebchen.
Pierce warf einen Blick in ihren Korb: kaltes Geflügel, eingelegte Zwiebeln, Hummerscheren und ein Kistchen mit schwarzen Zigarren.
»Sehr schön, sehr schön«, sagte er.
Agar sagte: »Für wen spielen wir hier eigentlich die Nobelgesellschaft?« Es war eine sarkastische Bemerkung, und Agar sagte später vor Gericht aus, sie habe Pierce anscheinend mißfallen.
Pierce drehte sich um. Sein Gehrock war offen und gab den Blick auf eine Pistole frei, die im Gürtel steckte.
»Wenn einer von euch etwas falsch macht«, sagte er, »hat er einen Kracher unter der Nase und kann sich die Lilien von unten besehen.« Er lächelte dünn. »Es gibt nämlich schlimmere Dinge als Deportation nach Australien.«
»Vergebung, Vergebung«, sagte Agar mit einem Blick auf das Schießeisen. »Vergebung, es sollte nur ein Scherz sein.«
Barlow sagte: »Wozu brauchen wir überhaupt diesen Schlangenjungen?«
Pierce ließ sich nicht ablenken. »Hört genau zu«, sagte er.
»Wenn einer von euch was falsch macht, hat er eine Kugel im Bauch, bevor er Amen sagen kann. Und das ist kein Scherz.« Er setzte sich an den Tisch. »So«, sagte er, »und jetzt will ich eine von den Hühnerkeulen. Wir wollen es uns so wohl sein lassen wie möglich, solange wir hier warten
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