Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
sich eines geradezu legendären Rufes. Es ging das Gerücht, Sauber-Willy könne sogar an einer Glaswand hochklettern. Und kein Mensch hätte es zu bestreiten gewagt.
Die Gefängniswärter von Newgate hatten während der vergangenen langen Monate diesen Gefangenen immer scharf im Auge behalten. Sie kannten seinen Ruf und waren auf alles vorbereitet. Sie wußten aber auch, daß ein Ausbruch aus Newgate einfach unmöglich war. Ein entschlossener und fähiger Mann mochte vielleicht aus Ponsdale entwischen können, wo die Bewachung notorisch lax war, die Mauern weniger hoch und die Wachen dafür bekannt, daß sie eine Schwäche für Goldstücke hatten und schon mal ein Auge zudrückten. Ponsdale, vielleicht auch Highgate oder ein Dutzend anderer Gefängnisse, aber niemals Newgate.
Newgate war das sicherste Gefängnis ganz Englands. Entworfen hatte es George Dance, »einer der akkuratesten Architekten in diesem Zeitalter des guten Geschmacks«.
Jedes Detail des Gebäudes war darauf angelegt, den Insassen das Gefühl des Gefangenseins deutlich spürbar zu machen. So hatte man etwa das Mauerwerk der Fensterbögen »mit Bedacht verstärkt, um die schmerzliche Enge dieser Öffnungen zu betonen«. Die Zeitgenossen zollten grausamen Effekten dieser Art Beifall.
Newgate war allerdings nicht allein seiner kunstvollen Architektur wegen berühmt. In den mehr als siebzig Jahren seit der Vollendung des Bauwerks im Jahre 1782 hatte keiner der Insassen ausbrechen können. Das konnte niemanden überra schen: Newgate war auf allen Seiten von fünfzig Fuß hohen Granitmauern umschlossen. Die Steinquader waren so sorgfältig geschnitten und verfugt, daß man es für unmöglich hielt, die Mauern zu erklimmen.
Aber selbst für den Fall, daß jemand das Unmögliche zuwege bringen sollte, war es vergeblich: auf den Mauerkronen waren zusätzliche Sicherungen angebracht. Über ihre gesamte Länge verlief eine Eisenstange, um die sich mit rasiermesserscharfen Stacheln besetzte Eisentrommeln drehten. Kein Mensch konnte dieses Hindernis überwinden. Ein Ausbruch aus Newgate war unvorstellbar.
Die Gefängniswärter hatten sich im Laufe der Zeit an die Anwesenheit des kleinen Willy gewöhnt, doch hatte damit auch ihre Aufmerksamkeit ein wenig nachgelassen. Er war kein schwieriger Gefangener. Er befolgte das Schweigegebot, sprach nie mit einem Mitgefangenen, nahm die vorgeschriebenen Fünfzehn-Minuten-Schichten in der Tretmühle ohne Murren – und ohne daß es je zu einem Zwischenfall kam – hin und arbeitete beim Wergzupfen ohne Unterlaß. Man kann sogar sagen, daß man dem kleinen Mann, der sich so grundlegend gewandelt zu haben schien, fast wider Willen Achtung zollte, denn er brachte den eintönigen Tageslauf mit beinahe fröhlicher Gelassenheit hinter sich. Er war ein fast sicherer Kandidat für eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung in ein oder zwei Jahren.
An jenem Montagmorgen jedoch, am 28. August 1854, um acht Uhr, hatte Sauber-Willy Williams sich still und leise in eine Ecke des Gefängnishofes geschlichen, an der zwei Mauern zusammentrafen. Den Rücken in den Mauerwinkel geklemmt, stemmte er sich mit Händen und Füßen wie in einem Felskamin hoch. Er vernahm undeutlich die Rufe der Menge: »Oh, ihr Leut’, hängen soll ich heut’!«, als er die Mauerkrone erreichte. Ohne zu zögern krallte er sich an einer der stachelbewehrten Eisentrommeln fest. Seine Handflächen wurden augenblicklich zerschnitten.
Seit seiner Kindheit hatte Sauber-Willy keinerlei Gefühl mehr in seinen mit Schwielen und vernarbten Wunden bedeckten Handflächen. Damals ließ man das Feuer im Kamin gewöhnlich brennen, bis der Schornsteinfeger und der Junge, der ihm half, eintrafen. Wenn der Junge dann in den Rauchfang stieg, um den noch heißen Schornstein zu reinigen, verbrannte er sich gewöhnlich die Hände. Doch das kümmerte kaum jemanden. Und wenn der Junge diese Arbeit nicht mochte, standen viele andere bereit, um seinen Platz zu übernehmen.
So hatte sich Sauber-Willy jahrelang immer wieder die Hände verbrannt. Und als jetzt das Blut aus seinen zerschnittenen Handflächen schoß, in Strömen an den Unterarmen hinablief und ihm ins Gesicht tropfte, spürte er nichts. Er verschwendete keinen Gedanken daran.
Er bewegte sich langsam an den sich drehenden Trommeln mit den Stacheln entlang, brachte eine ganze Mauer hinter sich, dann die zweite, dann die dritte. Es war erschöpfend, und er verlor dabei jedes Zeitgefühl und hörte auch nichts von dem
Weitere Kostenlose Bücher