Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
Lärm der Menge nach der Hinrichtung. So gelangte er nach und nach bis zur Südmauer. Dort hielt er inne und wartete, bis ein patrouillierender Gefängniswärter außer Sichtweite war. Der Mann blickte nicht einmal nach oben, obwohl, wie Willy sich später erinnerte, Blut auf seine Mütze und seine Schultern getropft war.
Nachdem der Gefängniswärter verschwunden war, arbeitete Willy sich mit Händen und Füßen über die rotierenden Stacheln hinweg, die ihm die Brust, die Knie und die Beine aufrissen, so daß sein Blut in Strömen floß. Dann sprang er fünfzehn Fuß tief auf das Dach des dem Gefängnis benachbarten Gebäudes. Seinen Aufprall hörte niemand, denn diese Gegend war jetzt menschenleer. Alles war bei der Hinrichtung. Von dem Dach sprang Willy auf das nächste und dann auf ein weiteres. Abstände von sechs oder acht Fuß übersprang er ohne jedes Zögern. Einoder zweimal hätte er um ein Haar den Halt verloren, als er auf lockere Dachschindeln und Schieferplatten traf, fing sich aber jedesmal wieder. Er hatte nicht umsonst einen großen Teil seines Lebens auf Häuserdächern zugebracht.
Schließlich, knapp eine halbe Stunde nach dem Beginn seiner Flucht, schlüpfte er behend durch ein Giebelfenster an der Rückseite des Molloyschen Hauses, schlich durch den Flur und betrat das Zimmer, das Mr. Pierce sich soviel hatte kosten lassen.
Agar erinnerte sich später, daß Willy »einen entsetzlichen, einen fürchterlichen Anblick« geboten habe, und fügte hinzu:
»Er blutete wie ein angestochener Heiliger.« Diese blasphemische Bemerkung wurde jedoch aus dem Gerichtsprotokoll gestrichen.
Pierce sorgte dafür, daß Sauber-Willy, der kaum noch bei Bewußtsein war, rasch behandelt wurde. Salmiakdämpfe aus einem Inhalator von geschliffenem Glas brachten Willy wieder zu sich. Die Frauen rissen ihm die Kleider vom Leib, wobei sie keine falsche Scham an den Tag legten. Sie verrichteten ihre Arbeit umsichtig und schnell. Sie behandelten die zahlreichen Wunden mit blutstillendem Puder und verbanden sie. Agar flößte Sauber-Willy einen Schluck Coca-Wein ein und ließ ihn von dem Krafttrunk der Firma Burroughs & Wellcome, der Fleischextrakt und Eisen enthielt, trinken, damit er wieder zu Kräften kam. Dann zwang man ihn, zwei von Carter’s kleinen Nervenpillen zu schlucken, und gab ihm noch etwas Opiumtinktur gegen die Schmerzen. Diese geballte Therapie brachte ihn schließlich ins Leben zurück, worauf die Frauen ihm das Gesicht wuschen, seinen Körper mit Rosenwasser beträufelten und ihn in das bereitliegende Kleid zwängten.
Als er fertig angekleidet war, flößte man ihm noch einen Schluck Bromocoffein zur weiteren Stärkung ein und wies ihn an, sich ohnmächtig zu stellen. Man setzte ihm eine Haube auf und zog ihm Stiefeletten an. Seine blutgetränkte Gefängniskleidung stopfte man in den Picknickkorb.
Niemand aus der Menge der mehr als zwanzigtausend Menschen achtete auch nur im geringsten auf die gutgekleideten Herrschaften, die Mrs. Molloys Haus verließen, obwohl eine der Frauen offenbar so mitgenommen war von der Hinrichtung, daß die Männer sie zu der wartenden Kutsche tragen mußten, die dann der frühen Morgensonne entgegenrollte. Eine ohnmächtige Frau war schließlich ein alltäglicher Anblick, nicht zu vergleichen jedenfalls mit dem Anblick einer Frau, die am Ende eines Stricks baumelte – hin und her, hin und her.
Der Gipfel der Geschmacklosigkeit
Man schätzt, daß rund sieben Achtel aller Gebäude im viktorianischen London aus der georgianischen Epoche stammen. Der Anblick, den die Stadt bot, war ein Erbe jener früheren Ära. Die Bürger des viktorianischen Zeitalters machten sich erst ab 1880 an die gründliche Erneuerung ihrer Hauptstadt. Man scheute lange die hohen Baukosten. Die alten Gebäude wurden auch dann nicht abgerissen, wenn sie den Anforderungen der neuen Zeit nicht mehr gerecht wurden. Das Zögern entsprang gewiß nicht ästhetischer Rücksichtnahme – die Menschen der viktorianischen Ära verabscheuten alles, was georgianisch war, diesen Stil, den sogar Ruskin als »Nonplusultra an Häßlichkeit« verdammte.
So kann es kaum überraschen, daß die Times in einem Bericht über den Ausbruch eines Häftlings aus Newgate kritisch vermerkte: »Die Vorzüge dieses Gefängnisses sind weit überschätzt worden. Ein Ausbruch aus Newgate ist nicht nur möglich, wie uns jetzt bewiesen worden ist, sondern sogar das reine Kinderspiel, denn der flüchtige Übeltäter ist noch nicht
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