Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
einmal volljährig. Es ist höchste Zeit, daß dieser Gipfel der Geschmacklosigkeit abgerissen wird.«
In dem Artikel stand ferner zu lesen, »die Metropolitan Police hat jetzt Gruppen bewaffneter Beamter in die Elendsviertel der Stadt entsandt, um den Flüchtigen ausfindig zu machen. Seine Festnahme steht, wie uns glaubhaft versichert wird, unmittelbar bevor.«
Diesem Bericht folgten keine weiteren. Das darf nicht verwundern, denn, wie es ein zeitgenössischer Beobachter einmal formulierte: »Ausbrüche aus Gefängnissen sind ebenso zahlreich wie uneheliche Geburten.« Etwas so Alltägliches war wirklich nicht berichtenswert. Zu einer Zeit, in der man die Fenstervorhänge des Londoner Parlamentsgebäudes mit Kalkbrühe tränkte, um die Herren Abgeordneten vor der grassierenden Cholera zu schützen, während sie über den Krim-Krieg debattierten, konnten die Zeitungen sich nicht mit einem kleinen Ganoven aufhalten, dem es gelungen war, sich aus dem Staub zu machen.
Einen Monat später fand man in der Themse die Leiche eines jungen Mannes. Die Polizeibehörden identifizierten den Leichnam als den aus Newgate entsprungenen Häftling. Die Nachricht war dem Evening Standard nicht mehr als einen Absatz wert. Die anderen Blätter erwähnten den Vorfall überhaupt nicht.
Ein Haus in Mayfair
Nach seinem Ausbruch wurde Sauber-Willy zu Mr. Pierce’ Haus in Mayfair gebracht, wo er etliche Wochen in völliger Abgeschiedenheit lebte, bis seine Wunden geheilt waren.
Aus Willys späteren Aussagen vor der Polizei erfahren wir zum erstenmal von der rätselhaften Frau, die Pierce’ Geliebte war und die Willy als »Miss Miriam« kennengelernt hatte.
Willy wurde in einem Raum des Obergeschosses untergebracht. Den Dienstboten des Hauses wurde gesagt, es handle sich um einen Verwandten Miss Miriams, der in der New Bond Street von einer Kutsche angefahren worden sei. Er wurde von Miss Miriam gepflegt, die von Zeit zu Zeit nach ihm sah. Er rühmte ihr »vornehmes Auftreten«, ihre »gute Figur« und ihre
»feine Ausdrucksweise«. Sie habe sich immer gemessenen Schrittes bewegt und nie einen gehetzten oder eiligen Eindruck gemacht. Alle Zeugen, die ihr einmal begegnet waren, äußerten sich in ähnlicher Weise. Sie zeigten sich vor allem von der »ätherischen Erscheinung« der jungen Frau beeindruckt. Ihre Augen seien besonders bezaubernd. Man sprach von ihrer »traumhaften« und »überirdischen Anmut«.
Miss Miriam lebte offenkundig mit Pierce in diesem Haus zusammen, war jedoch tagsüber oft unterwegs. Sauber-Willy wußte nie genau, wo sie sich gerade aufhielt. Da man ihn ohnehin oft mit Opium sedierte, mag dies das »Geisterhafte« erklären, das er ihr zuschrieb.
Willy konnte sich nur an eine Unterhaltung mit ihr erinnern. Er hatte sie einmal gefragt: »Sind Sie sein Vögelchen?« Er meinte, ob sie Pierce’ Komplizin bei seinen Einbrüchen sei.
»O nein«, hatte sie lächelnd erwidert. »Ich verstehe nichts von der Musik.«
Daraus hatte er geschlossen, daß sie nicht in Pierce’ Pläne eingeweiht war, eine Annahme, die sich später als falsch erwies. In Wirklichkeit spielte sie eine wesentliche Rolle in seinem Plan, und er hatte sie vermutlich als erste eingeweiht.
Im Prozeß wurden zahlreiche Spekulationen über Miss Miriam und ihre Herkunft angestellt. Einige Anzeichen lassen den Schluß zu, daß sie Schauspielerin war, was auch ihre Fähigkeit erklären würde, verschiedene Akzente nachzuahmen oder mühelos in verschiedene Rollen zu schlüpfen: die Dame von Stand gelang ihr ebenso gut wie die einfache Frau aus dem Volk. So wird auch ihre Neigung verständlich, Schminke aufzulegen, denn damals wäre es keiner ehrbaren Frau eingefallen, der Natur mit Kosmetika aufzuhelfen. Und schließlich ließ sie offen erkennen, daß sie Pierce’ Geliebte war. In jenen Tagen waren die Grenzen zwischen einer Schauspielerin und einer Prostituierten fließend. Schauspieler waren schon von Berufs wegen immer unterwegs. Es lag nahe, daß sie Verbindung zu Verbrecherkreisen hatten oder sogar selbst ein kriminelles Leben führten. Welche Vergangenheit Miss Miriam auch gehabt haben mag, sie mußte schon seit Jahren Pierce’ Geliebte gewesen sein.
Pierce selbst hielt sich nur selten im Haus auf und blieb gelegentlich auch über Nacht fort. Sauber-Willy erinnerte sich, ihn ein paarmal am späten Nachmittag gesehen zu haben – in Reitkleidung und nach Pferd riechend, als wäre er gerade von einem Ausritt zurückgekehrt.
»Ich wußte gar
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