Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
nicht, daß Sie ein Pferdefreund sind«, hatte Willy einmal gesagt.
»Bin ich auch nicht«, hatte Pierce knapp erwidert. »Ich hasse die verdammten Biester.«
Nachdem Willys Wunden verheilt waren, hielt Pierce ihn noch im Haus, damit sein »Terrierschnitt« nachwachsen konnte. Ein entsprungener Häftling ließ sich damals am ehesten an seinen kurzgeschorenen Haaren erkennen.
Ende September waren Willys Haare zwar schon länger, aber Pierce erlaubte ihm noch immer nicht, aus dem Haus zu gehen. Als Willy nach dem Grund fragte, sagte Pierce: »Wir wollen erst abwarten, bis man dich wieder einfängt.«
Diese Äußerung verwirrte Willy zwar sehr, aber er blieb wie befohlen im Haus. Wenige Tage darauf kam Pierce mit einer Zeitung unter dem Arm zu ihm ins Zimmer und sagte ihm, jetzt könne er gehen. Noch am selben Abend begab Willy sich ins
»Heilige Land«, wo er sein Liebchen Maggie wiederzufinden hoffte. Er mußte feststellen, daß Maggie sich inzwischen mit einem Straßenräuber liiert hatte, einem grobschlächtigen Burschen, der sich durch »Stockschwingen«, durch Überfälle also, über Wasser hielt. Maggie zeigte Willy die kalte Schulter.
Willy tröstete sich mit einem zwölfjährigen Mädchen namens Louise, das sich vorwiegend vom Wäschestehlen ernährte. Im Prozeß wurde sie den Richtern als Wäschediebin der untersten Kategorie beschrieben. Die höheren Ränge der Zunft suchten vornehmere Stadtviertel heim und stahlen dort die elegante, oft bereits gestärkte und gaufrierte Wäsche von der Leine. Wäschediebe wie Willys neue Geliebte arbeiteten nur dann mit einigem Gewinn, wenn sie das gestohlene Gut an Hehler verkaufen konnten, die es in Trödelläden weiterveräußerten. Nur Kinder und junge Mädchen ließen sich auf diese wenig einträgliche Form des Wäschediebstahls ein.
Willy lebte von den Einnahmen des Mädchens und wagte sich nie über die Grenzen des Elendsviertels hinaus, in dem er jetzt hauste. Pierce hatte ihn eindringlich gewarnt: Er solle den Mund halten und nie verlauten lassen, daß er ihm bei dem Ausbruch aus Newgate geholfen habe. Sauber-Willy wohnte mit seinem Liebchen zusammen in einer billigen Herberge, in der über hundert Menschen hausten.
Das Haus war als Schlupfwinkel kleiner Gauner bekannt. Willy schlief mit seiner Freundin in einem Bett, das er noch mit zwanzig weiteren Personen beiderlei Geschlechts teilen mußte. Louise sagte über diese Zeit: »Er lebte in den Tag hinein, ließ es sich gutgehen und wartete darauf, daß sein Herr und Meister ihn rief.«
»Die Meile der Damen«
Von all den eleganten Orten, wo das feine London sich traf, konnte es keiner mit dem schlammigen Reitweg im Hyde Park aufnehmen, der als »Meile der Damen« oder »Rotten Row« bekannt war. Hier konnte man bei gutem Wetter buchstäblich Hunderte von elegant gekleideten Männern und Frauen bewundern, die sich gegen vier Uhr nachmittags im goldenen Schein der Sonne in strahlender Laune zu Pferde dort sehen ließen.
Es war ein munteres Treiben: Reiter und Reiterinnen, dicht an dicht. Hinter den Damen trotteten uniformierte Pagen her, manche wurden auch von ernst dreinblickenden Anstandsdamen zu Pferde oder von berittenen Kavalieren begleitet. Es war ein prächtiges, mondänes Schauspiel, und doch hatte es gleichzeitig etwas leicht Anrüchiges, denn etliche Damen standen in zweifelhaftem Ruf. Wie ein zeitgenössischer Beobachter schrieb: »Es gehört nicht viel Phantasie dazu, den Beruf jener hinreißenden equestrienne zu erraten, die mit der Peitsche oder mit einem Winken ein halbes Dutzend Männer zugleich begrüßt und zuweilen die Eintönigkeit des korrekten Reitens durchbricht, indem sie, beide Hände auf dem Rücken, sich anmutig zu einem zu Fuß neben ihr gehenden Bewunderer herabbeugt und seinen Komplimenten lauscht.«
Solche Damen gehörten der höchsten Klasse der Prostituier ten an, und ehrbare Damen sahen sich oft in die Lage versetzt, mit diesen raffiniert aufgemachten Demimondänen um die Gunst der Männer konkurrieren zu müssen.
Solche Wettbewerbe fanden allerdings nicht nur in dieser Arena statt: Oper und Theater waren dafür gleichermaßen beliebte Schauplätze. Mehr als eine junge Dame wurde plötzlich gewahr, daß die Augen ihres Begleiters nicht das Geschehen auf der Bühne verfolgten, sondern fest auf irgendeine Loge gerichtet waren, aus der eine elegante Frau seine Blicke mit offenem, unverhohlenem Interesse erwiderte.
Die Bürger des viktorianischen Zeitalters taten zwar
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