Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
daß die Seitenwände des Büros zur Bahnhofshalle hin aus Glas waren.
Durch die Scheiben konnte er auf die verlassenen Gleise und Bahnsteige hinuntersehen. Er sah auch den Nachtwächter, der in der Nähe der Tür auf einer Treppenstufe saß. Neben ihm lag eine Papiertüte.
Sauber-Willy stieg vorsichtig vom Schreibtisch hinunter. Er trat auf eine Glasscherbe und erstarrte. Falls der Nachtwächter das Geräusch gehört hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Nach einem Augenblick durchquerte Willy das Büro, nahm einen Stuhl und stellte ihn vor den Wandschrank. Er stieg hinauf, zog den einen Dietrich, den Agar ihm gegeben hatte, aus der Tasche und öffnete das Schrankschloß. Dann setzte er sich hin und wartete. Aus der Ferne hörte er es von einem Kirchturm neun Uhr schlagen.
Agar, der sich in einem dunklen Winkel der Bahnhofshalle verborgen hielt, hörte das Schlagen der Kirchturmuhr auch. Er seufzte. Noch zweieinhalb Stunden, und dabei hockte er jetzt schon zwei Stunden zusammengekauert in dieser Ecke. Er wußte, wie steif seine Beine sein würden, und dachte besorgt an seinen Spurt zur Treppe.
Von seinem Versteck aus hatte er gesehen, wie Sauber-Willy in den Dienstraum einstieg. Und er hatte Willy auch gesehen, als er auf dem Stuhl stand und sich an dem Schloß des Wandschranks zu schaffen machte. Dann war Willy verschwunden.
Agar seufzte wieder. Er fragte sich zum tausendstenmal, was Pierce mit diesen Schlüsseln eigentlich vorhatte. Es mußte sich um ein verdammt großes Ding handeln, wenn er so viel dafür in Szene setzte. Vor ein paar Jahren hatte Agar bei einem Einbruch in ein Lagerhaus in Brighton mitgemacht. Neun Schlüssel waren für den Einstieg notwendig gewesen: einer für ein Außentor, zwei für ein Innentor, drei für die Haupttür, zwei für eine Bürotür und einer für einen Lagerraum. Sie hatten damals 10.000 Pfund in Noten der Bank von England erbeutet, und der Kopf der Bande hatte mit der Planung und Vorbereitung des Unternehmens vier Monate zugebracht.
Und Pierce, ausgekocht wie kaum je ein Schränker, verbrachte jetzt schon acht Monate damit, vier Schlüssel an sich zu bringen. Das Unternehmen hatte ihn bestimmt schon ein hübsches Sümmchen gekostet, und das bedeutete, daß die Beute den Einsatz lohnen mußte.
Aber was war die Beute? Warum das Ganze? Diese Fragen beschäftigten Agar mehr als der Ablauf seines VierundsechzigSekunden-Wettlaufs mit der Zeit. Er war Berufsverbrecher, er hatte einen kühlen Kopf, er hatte sich gut vorbereitet und war voller Zuversicht. Sein Herz schlug nicht schneller, als er zu dem Nachtwächter hinübersah.
Der Polyp machte gerade wieder eine seiner Runden.
Der Polizist sagte zu dem Nachtwächter: »Wissen Sie, dass Hampton wieder in den Ring steigt?«
»Nein«, sagte der Nachtwächter. »Gegen wen?«
»Gegen Edgar Moxley.«
»Und wo soll der Kampf stattfinden?«
»In Leicester, wie ich höre«, erwiderte der Polizist.
»Und auf wen haben Sie gesetzt?«
»Auf Bill Hampton, natürlich.«
»Der ist gut«, sagte der Nachtwächter. »Harter Bursche, dieser Bill.«
»Und ob«, erwiderte der Polizist. »Ich hab ‘ne halbe Krone auf ihn gesetzt – da muß er schon verdammt hart sein!«
Und damit ging er weiter.
Agar zog im Dunkeln verächtlich die Mundwinkel herunter. Er hatte beim letzten Boxkampf zwischen dem »Teufel aus Lancaster«, John Boynton, und dem Schlappschwanz Kid Ballew 10 Pfund gewettet. Diese Wette hatte Agar wohlgetan: zwei zu eins war die Quote gewesen. Da hatte er einmal hinge langt!
Er spannte die Muskeln seiner verkrampften Beine an, um den Blutkreislauf anzuregen, und lockerte sie dann wieder.
Er hatte noch eine lange Wartezeit vor sich. Er dachte an seine Dille. Immer wenn er bei der Arbeit war, dachte er an die Beff seiner Dille. Das war nur natürlich – wenn ein Mann unter Druck stand, wurde er geil. Doch dann kehrten seine Gedanken zu Pierce zurück und zu der Frage, die ihm jetzt schon fast ein Jahr lang im Kopf herumging: Hinter was waren sie eigentlich her?
Der betrunkene Ire mit dem roten Bart und dem Schlapphut torkelte durch die menschenleere Bahnhofshalle und sang Molly Malone . Sein schlurfender, plattfüßiger Gang verriet den echten Säufer, und als er weiterging, grölte er so selig vor sich hin, daß er den Nachtwächter auf der Treppe offenbar nicht bemerkte.
Das tat er aber durchaus, und er beäugte mißtrauisch die Papiertüte des Nachtwächters, ehe er sich umständlich und schwankend
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