Der große Galaktiker
Milchmädchenrechnung. Krieg ist die große unberechenbare Unbekannte. Ein genialer Taktiker mit einer Million Mann ist durchaus imstande, ein nicht weniger gut bewaffnetes Zwei-Millionen-Heer zu schlagen. Bis zu einem gewissen Punkt ist Krieg eine Wissenschaft wie Astronomie, die nach Erreichen dieses Punkts zur Astrologie wird. Soweit wissenschaftlich zu errechnen ist, befinden wir uns strategisch nicht gerade im Vorteil. Wir nehmen zwar nicht gerade an, daß wir verlieren würden, können jedoch andererseits auch keinen Sieg garantieren.«
»Das ist das Argument alter konservativer Weiber. Die Martier würden es nicht wagen, uns anzugreifen.«
»Hören Sie sich erst einmal die Zusammenstellung der Zahlen an«, fuhr Thomas ruhig fort. »Die Hälfte unseres Stahls, auch die Milliarde Tonnen, die wir an den Mars verkaufen, wird unter größten Schwierigkeiten auf Jupiter gefördert. Wir könnten diese Förderung im Kriegsfall nicht aufrechthalten, weil unsere Minen jeglichem Angriff schutzlos ausgesetzt wären. Also bleiben uns fünf Milliarden. Wir könnten aber auch die Minen auf Titan nicht in Betrieb halten, deren Ertrag knappe fünfzig Millionen Tonnen Stahl ist. Europa dürfte schon im ersten Monat nach Kriegsbeginn in die Hände der Martier fallen. All das aufgrund der militärischen Unfähigkeit unserer Schiffe, die Routen zwischen Erde und Jupiter zu schützen, außer natürlich zu bestimmten Jahreszeiten, wenn Mars sich von Jupiter ausgehend auf der anderen Seite der Sonne befindet. Sie dürfen jedoch sicher sein, daß die Martier den Krieg zu dem für sie günstigsten Zeitpunkt beginnen würden.
Natürlich wären auch die Martier unter Kriegsbedingungen nicht in der Lage, die Jupiterminen zu betreiben. Aber sie dürften keine Förderschwierigkeiten auf Ganymed, Io, Kallisto haben, auch nicht auf Europa und Titan, nachdem beide erobert sind. Uns dagegen bleiben die Minen auf der Venus, dem Mond und der Erde, mit einer jährlichen Ausbeute von ungefähr vier Milliarden Tonnen. Wenn man nun die Größe der Erde in Betracht zieht, und die höhere Bevölkerungsdichte von Venus und Erde, und den viel geringeren Bedarf der Martier, wären sie mit ihren zwölfhundert Millionen Tonnen durchaus im Vorteil. Unsere Militärmächte würden in einen Billionen-Dollar-Krieg verwickelt werden. Wozu, frage ich Sie? Um ein paar hundert Millionen Tonnen Stahl und ein paar andere Metalle auf Europa zu behalten? Verständlicherweise kamen wir zu dem Schluß, daß es den Aufwand nicht wert ist, als wir sahen, wie die politische Lage auf Mars sich zuspitzte.«
»Ihr verdammten Feiglinge«, zischte Ray Bartlett. »Wir kämpfen nicht um den Stahl. Wir werden jedoch bis zum letzten Mann und zur letzten Frau um unser Zuhause kämpfen. Reden wir besser nicht mehr davon. Sie machen mich krank mit Ihrer kalten, gefühllosen Logik. Menschen wie Schachfiguren herumzuschieben! Dabei sind sie das einzige, das zählt. Nur gut, daß weder Sie noch ich eine Chance haben, lebend zurückzukommen.«
Zwei Stunden später stand die Sonne hoch im dunklen, düsteren Himmel. Es waren zwei Stunden des Schweigens gewesen. Zwei Stunden, in denen sie vorsichtigen Schrittes über schmale Fels streifen zogen, links und rechts von ihnen klaffende, groteske Täler, und dazwischen sich zu Höhlen öffnende Risse und Spalten, die steil hinab bis zu den Eingeweiden des Mondes reichten. Zwei Stunden der Trostlosigkeit.
Die großen schwarzen Steilhänge, nun nicht mehr vom gnädigen Schleier der Entfernung verhängt, ragten drohend vor ihnen auf. So weit ihr Auge reichte, erstreckten sie sich über das unwirtliche Land. Aus Thomas’ Sicht, der sich immer erschöpfter werdend dahinarbeitete und über die Spalten sprang, schienen sie wie eine spiegelglatte, unbesteigbare Mauer in den Himmel zu streben.
»Ich ahnte nicht, daß ich so außer Kondition bin«, keuchte er. »Ich gebe es nicht gern zu, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Wand überhaupt schaffe.«
Der junge Mann drehte ihm ein Gesicht zu, dessen gesunde Bräune einer Blässe der Erschöpfung Platz gemacht hatte. Ein Funke von Leben kam kurz in die dunklen Augen.
»Das ist der Hunger!« erklärte er brüsk. »Ich warnte Sie.«
Thomas schritt mühsam weiter. Nach einem Augenblick verringerte er jedoch das Tempo und wandte sich zu Bartlett um. »Diese Grasfresser – ernähren sie sich nicht unter anderem auch von kleinen Zweigen?«
»Ja. Darum ihr langer Hals. Warum fragen
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