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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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einem vorüberfahrenden Streifenwagen machte ein Polizist eine Handbewegung, die Haid in der Geschwindigkeit des Vorbeifahrens aber nicht zu deuten vermochte.
     
     
4
     
     
    Als Haid in Newark einen Neger beobachtete, der den Boden des Flughafengebäudes reinigte, bemerkte er, wie sehr er sich in Einzelheiten verlor. Der Neger hatte soeben einen Blechkübel umgeschüttet und begann, mit einem Besen und einem Lappen die Reinigungsflüssigkeit über den Boden zu verteilen. Auf dem von der Mütze nicht bedeckten Teil über den Ohren glänzte die nackte Kopfhaut. Haid verspürte den Drang zu urinieren, stieß mit dem Ellbogen die Schwingtüre zu den Toiletten auf und entdeckte zu seiner Überraschung einen der kegelförmigen Warnpfeiler in einem Urinoir. Ein anderes Urinoir war verstopft und mit Urin gefüllt. Er zündete sich eine Zigarette an, verließ die von den Wasserspülungen rauschende Toilette und ging den langen Gang zu den Warteräumen hinunter.
     
     
5
     
     
    Im Flugzeug schlief Haid ein. Er erwachte, als es langsam dämmerte. Die Erdoberfläche hatte sich schmutzigweiß verfärbt und war von violettgrauen Flußadern durchzogen, wie ein neugeborener, durchsichtiger Fisch von Blutgefäßen. Dazwischen lagen weinrote Ebenen, die Haid wie riesige, versteinerte Laubblätter erschienen. Als er später hinausblickte, sah er den Kondensstreifen einer vorbeigeflogenen Düsenmaschine in der Luft stehen.
    Er schlief wieder ein und erwachte erst, als das Flugzeug in San Francisco landete.

SAN FRANCISCO
1
     
     
    Haid zog die geblümten Vorhänge in seinem Hotelzimmer zurück und schaute vom sechsten Stock auf die Powell Street. Neben dem Fenster lief ein langes, grünes Reklameschild mit weißen Buchstaben: XAVIER CUGAT – DANCE STUDIO , F OXTROTT , WALTZ , SWING , RUMBA . Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein weißes Haus mit weißer Feuerleiter. In blauer Schrift stand JAPAN A IRLINES auf dem Haus. Die Straße stieg zu einem Hügel an, von dem gerade eine Straßenbahn heruntergefahren kam, ein alter, gelb, tabakbraun und flaschengrün gefärbter Wagen, der von weitem wie ein Museumsstück aussah. Er war zum Teil offen, mit Trittbrettern und weiß gestrichenen Haltegriffen ausgestattet, an die sich eine Traube Menschen klammerte. Haid nahm seinen Fotoapparat und fotografierte aus dem Fenster. Das Straßenbild nahm ihn so gefangen, daß er einen Film verschoß. Er stand am Fenster und betrachtete alles mit größter Genauigkeit: Die Leinendächer vor den Geschäften orange-rot und violett-rosa gestreift, ein vierstöckiges Parkhaus, auf dessen Dach Autos in der flimmernden Sonne standen und deren Scheiben das Sonnenlicht blendend reflektierten. Omar Khayam’s Restaurant, Jax Steaks. Ein Polizist pfiff. Haid freute sich darüber, den Polizisten zu sehen, wie er den Anblick aus Filmen gewohnt war. Niemand trug einen Mantel.
    Haid duschte sich. Er vergaß den Plastikvorhang vorzuziehen, so daß der Boden naß wurde. Beim Duschen sah er das Straßenbild vor sich. Er schloß die Augen und stellte sich vor, wie er selbst auf die Straße ging. Er wollte sich dem Zufall überlassen. Die Müdigkeit schwand. Als er sich rasieren wollte, fand er keine passende Steckdose für seinen Apparat. Er zog sich um und überblätterte einen Veranstaltungskalender. Im American Conservatory Theatre spielte die Royal Shakespeare Company »Ein Sommernachtstraum«. Der Titel erschien ihm wie ein Hinweis auf sein traumhaftes Wirklichkeitsempfinden. Am 22. März trat Marlene Dietrich auf, am 23. Jane Russel. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich alles ereignete, schreckte ihn. Er war in ein Labyrinth geraten, in dem er von Einzelheiten überhäuft, verwirrt und getäuscht wurde. So stellte sich Haid den Wahnsinn vor: Daß die Realität sich völlig veränderte und daß man keine Ursachen dafür wußte. Er sagte sich nur, daß er in Amerika sei, und dieses Gefühl war nahezu aufgehoben. »Ich seh mir selber zu«, dachte er sich.
    Mittlerweile hatte er sich umgezogen und war durch den Hotelflur gegangen, der mit den grünen Türen und dem weiß- und grüngemusterten Teppich in ihm den Einfall erzeugte, er spazierte durch das Gefäßsystem einer riesenwüchsigen Pflanze. Er fuhr mit dem Lift in die Hotelhalle und gab in der Portiersloge sein Scheckbuch und das Bargeld ab. Hinter dem Pult stand eine magere alte Frau. Sie reagierte auf sein langsames Sprechen und die – durch das nicht völlige Verstehen der

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