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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Schädel und schütterem Haar, sammelte die Einsätze ein und zahlte mit unbewegtem Gesicht die Gewinne aus. 25-Cent-Münzen klapperten auf dem Tisch, eine Glocke gab Signal, das Aufsichtsorgan kassierte, wechselte, zahlte. Alles geschah in Windeseile. Das Aufsichtsorgan rief Haid etwas zu. Haid reagierte nicht darauf. Er bemerkte zwei Parabolspiegel über dem Eingang und am Ende der Halle. Nach einigem Suchen entdeckte Haid sich selbst in einem der Spiegel, klein, verkrümmt, mit pfotenähnlichen Händen. Als er seine Hände an die Wand hinter seinem Rücken legen wollte, fühlte er eine glatte Kälte, und tatsächlich war der schmale Korridor zwischen den Spieltischen und der Mauer mit Spiegeln verkleidet. Das Aufsichtsorgan rief ihm jetzt mit teilnahmslosem Gesicht zu, von den Tischen weg an die Wand zu treten. Haid befolgte die Anweisung. Eine der Spielerinnen, eine stark gepuderte, betrunkene Vierzigjährige mit Basedow-Blick und billiger Dauerwelle kramte in ihrem Handtäschchen nach einer Zigarette. Haid bemerkte, daß der rote Lack auf ihren Nägeln abgesplittert war und daß an ihrer Bluse ein Knopf fehlte. Er hatte den Eindruck, daß die Frau ohne große Hoffnung auf Erfolg spielte. Ihr Spiel hatte etwas Aufsässiges und Gehässiges an sich. Als das Aufsichtsorgan das nächste Mal vorüberkam, legte sie kein Geld auf den Tisch, sondern fragte es, ob es eine Freundin suche. Die Frage an das geschlechtslos aussehende Aufsichtsorgan kam Haid wie ein Witz vor. Das Aufsichtsorgan lenkte mit einem beiläufigen Satz ab. Die Frau spielte weiter. Nachdem das Aufsichtsorgan weitergegangen war, stieß sie flüsternd Schimpfworte aus. Jetzt sah Haid, daß sie orthopädische Schuhe trug. Sie hatte etwas unglaublich Verkommenes an sich. Jeden Fehlwurf begleitete sie mit einem höhnischen Lächeln, so als sei sie zu Recht betrogen worden. Haid nahm Platz und spielte einige Spiele. Einmal gewann er, ohne recht zu wissen warum, verlor aber bald und ging wieder …
    Auf der Straße kam ihm ein Mann mit wirren Haaren und zerrissenen Kleidungsstücken, die nackten Füße ohne Socken in den Schuhen entgegen. Haid sah ihm nach, wie er die Entgegenkommenden zu rempeln versuchte. Einmal trat ein Neger mit einem Aluminiumbecher aus einer Hausnische, streckte die Hand vor ihm aus und rief: » CASH !« Haid ging, so wie er es bei den anderen sah, weiter. Er haßte Amerika in diesem Augenblick. Eine Gesellschaft vom Reichtum und der Größe Amerikas lebte gleichgültig mit einer großen Masse von Bettlern, Trinkern, Verzweifelten, als seien diese notwendig für die Gesellschaft oder als besäße man Einsicht in einen Schöpfungsplan, nach dem all dies als etwas völlig Natürliches geschaffen worden war und das unausrottbar in alle Ewigkeit bestehen würde. Er dachte, daß dieses Elend für den Kosmos wohl gleichgültig war, auch hatte er kein schlechtes Gewissen, nicht selbst zu den Elenden zu gehören, es war vielmehr die Schamlosigkeit, die ihn abstieß, zu der sich die Elenden unter dem Druck oder der Gleichgültigkeit der Gesellschaft bekennen mußten, um überleben zu können. Es waren auch die Bösartigkeit und die Aggressivität, mit der diese Menschen ihr Schamgefühl und ihre Selbstbehauptung zu wahren suchten. Natürlich hatte Haid Bettler und Arme in Wien gesehen, aber hier war er unsicher, welche der Menschen arm, kriminell, asozial, verrückt waren und wer sich als Armer, Krimineller, Asozialer oder Verrückter tarnte, um in Ruhe gelassen zu werden. Sein Großvater fiel ihm ein, der als Jugendlicher nach Amerika hatte auswandern wollen. Er war zu Fuß nach Bremerhaven gewandert, hatte unterwegs verschiedene Arbeiten angenommen, in Heuschobern übernachtet, war verhaftet und wieder freigelassen worden, bis er endlich sein Ziel erreicht hatte, als er sich dann irrtümlich an Bord des Schiffes MARTHA BLUMENFELD versteckte, das nach Cardiff fuhr. Er hatte Amerika nie gesehen. Haid fragte sich, was aus ihm geworden wäre. Ein Bettler? Ein Verrückter? Ein Krimineller? Oder ein Kleinbürger mit einem eigenen Häuschen in WYOMING? Er sah ihn vor sich, in einem weißen Schaukelstuhl auf der Veranda eines Holzhauses, zuckerkrank, mit traurigen Augen und eisgrauem Schnurrbart.
    In kleinen, von schwarzen Eisenzäunen eingefriedeten Parks und an den Hängen beiderseits der Straßen entdeckte Haid glänzend grüne Efeublätter. Er pflückte ein Blatt und steckte es in die Sakkotasche. Er wußte nicht, warum er es getan hatte, aber er

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