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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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ausgestreckten Zeigefinger einen Revolver und imitierte mit dem Mund schnalzend ein Schußgeräusch. Dann zeigte er auf sich und sagte: »Ich.«
    Haid antwortete, daß er müde sei und ging. Er hatte keine Angst empfunden, nur Unbehagen.
     
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    Auf der Straße beschimpfte ein Betrunkener die Müllarbeiter, die geräuschvoll die Müllkübel entleerten. Er stand da, ein Herumflanierer, die Hände in den Hosensäcken, ohne Hemd, in einer braunen Jacke, und gab einen Unflat an Worten von sich. Die Müllarbeiter arbeiteten teilnahmslos weiter. Haid kam das vor wie eine surrealistische Szene: Das stumpfsinnige Arbeiten der Müllarbeiter und der Hohn und die Verachtung des Herumflanierers. Ignorieren als Selbstschutz. Wie oft hatte er selbst vorgegeben, etwas nicht zu bemerken, um nicht in eine unangenehme Situation verwickelt zu werden. Tat er nicht gerade jetzt dasselbe, indem er sich so unauffällig wie möglich hinter dem Herumflanierer entfernte? In diesem Augenblick stürzte der Herumflanierer wie vom Blitz getroffen zu Boden. Schaum stand vor seinem Mund, und er warf sich in epileptischen Zuckungen auf dem Asphalt. Was sollte Haid tun? Verschwinden? Das Gesehene ignorieren? Ignorieren erschien ihm ein notwendiges Ausleseverfahren. Es konnte nicht jeder seinen Empfindungen, jedem Eindruck, jedem Satz nachgehen. Haid war völlig unentschlossen. Am liebsten wäre er weitergegangen. Warum tat er es nicht? Und warum stand er bloß auf dem Gehsteig, ohne etwas zu tun, hypnotisiert von dem Schauspiel. Eine kleine Blutlache hatte sich unter dem Hinterkopf des Gestürzten gebildet. Von der anderen Straßenseite kamen einige Passanten ohne sonderliche Eile auf ihn zu. Seit dem Sturz des Herumflanierers waren nicht mehr als zwei Sekunden vergangen, vielleicht auch drei. Für Haid verlangsamte sich die Zeit in solchen Situationen immer. Er sah, wie einer der Passanten sich bückte, die Jacke öffnete und eine zerbrochene Sonnenbrille, die der Gestürzte bei sich gehabt haben und die beim Sturz aus der Tasche gefallen sein mußte, mit dem Fuß vom Gehsteig trat. Haid war von seiner eigenen Gefühllosigkeit überrascht. Während sich dieser Mensch auf dem Boden wand, dachte er nur an sich selber, beschäftigte er sich nur mit seinen eigenen Reaktionen, beobachtete er sich, mit großer Aufmerksamkeit. Für einen kurzen Moment haßte er sein Gehirn, das alles analysierte und zerriß. Das Zertrümmern jedes Gedankens, jeder Wahrnehmung in Mikroteile war ihm widerlich. Man hatte den Gestürzten inzwischen zur Seite gedreht. Ein Bursche lief in einen Drugstore, um zu telefonieren. Die Müllarbeiter waren fertig und stiegen auf den Wagen. Sie kümmerten sich überhaupt nicht um den Mann, der auf dem Boden lag. Was war das schon Besonderes? Lagen nicht jede Nacht Betrunkene, Verunglückte und Elende auf dem Boden? Haid war zwar stehengeblieben und hatte sich darüber Gedanken gemacht, mehr automatisch als willentlich, was aber hatte er unternommen? Er hatte gewartet, bis die Menschen die Fahrbahn überquert hatten. Und? Nein, es war erbärmlich gewesen. Nicht einmal die Kaltblütigkeit hatte er aufgebracht, die aus der Not entsteht, eine Kaltblütigkeit, die sich ungeheuer rasch und unter starkem Gefühlsaufwand entwickelt, wenn man sich einen kleinen Anstoß gibt, um sich zu überwinden. Er aber war gefangen von sich selbst gewesen, von seinen eigenen Reaktionen und der Zeugenschaft eines Vorfalls. Der Gestürzte war jetzt von Menschen so umringt, daß Haid nur dessen Schuhe sehen konnte. Philipp Marlowe hätte diese Situation vielleicht anders erlebt, dachte Haid, aber Raymond Chandler, der ihn erfunden hatte, war Haid vermutlich ähnlicher gewesen als die selbst erfundene Figur. Diese Annahme kam ihm sogleich dumm vor. Was wußte er von Raymond Chandler? Der Gedanke ließ ihn sich Raymond Chandler als einen jener Menschen vorstellen, die den Epileptiker umringten, mit dem Gesicht eines versoffenen Archäologen und der schwarzen Hornbrille, interessiert und ruhig, den Epileptiker als neues Fundstück für Philipp Marlowe betrachtend. Haid hätte ihn gerne angesprochen, wenn er ihn unter den Menschen gewußt hätte … Plötzlich kam Haid sich überflüssig vor. Was tat er hier noch. Alles war schon in die Wege geleitet worden und er stand noch immer auf seinem Platz und blickte abwesend auf den Gestürzten. Es war eine Eigenart von ihm, daß er dort, wo er versagt hatte, aushielt. Wenn ihn jemand überraschend und

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