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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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reagiert, als ich mich wegen ihrer Socken aufregte. Wie überhaupt immer, wenn sie sah, dass ich litt, weil etwas nicht so war, wie ich es gern hätte. Dann versuchte sie mich mit diesem einen Wort davon zu überzeugen, dass ich die Dinge so nehmen musste, wie sie waren.
    »Morgen sind wir alle vereint«, sagte ich. »Und dann bleiben wir alle hier bei dir, einverstanden? Keiner wird gehen.« Ich fasste durch die überall um sie herumhängenden Schläuche und streichelte ihr die Schulter. »Ich liebe dich«, sagte ich und beugte mich vor, um sie zu küssen, doch sie wehrte mich ab, denn ihre Schmerzen waren zu groß, um auch nur einen Kuss auszuhalten.
    »Liebe«, hauchte sie, zu schwach, um »ich« und »dich«zu sagen. »Liebe«, wiederholte sie, als ich das Zimmer verließ.
    Ich fuhr mit dem Aufzug nach unten, trat auf die kalte Straße hinausundging den Gehweg entlang. Ich kam an einer Bar vorbei. Sie war gerammelt voll, wie ich durch ein großes Fenster sehen konnte. Die Gäste trugen glänzende grüne Papierhüte, grüne Hemden und grüne Hosenträger und tranken grünes Bier. Ein Betrunkener fing meinen Blick auf und deutete mit dem Finger auf mich. Sein Gesicht brach in stummes Gelächter aus.
    Ich fuhr nach Hause, fütterte die Pferde, dann die Hühner und klemmte mich ans Telefon. Die Hunde leckten mir dankbar die Hände, und unsere Katze drängte sich auf meinen Schoß. Ich rief jeden an, der vielleicht wusste, wo mein Bruder steckte. Er trinke viel, sagten einige. Ja, das stimme, sagten andere. Er habe sich mit einem Mädchen namens Sue aus St. Cloud herumgetrieben. Um Mitternacht klingelte das Telefon, und ich sagte ihm, dass es so weit sei .
    Am liebsten hätte ich ihn angebrüllt, als er eine halbe Stunde später zur Tür hereinkam, ihn geschüttelt, getobt, ihm Vorhaltungen gemacht, doch als ich ihn sah, konnte ich ihn nur in die Arme schließen und weinen. Er kam mir in dieser Nacht so alt vor und gleichzeitig so jung. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass er ein Mann geworden war, aber ich konnte auch sehen, was für ein kleiner Junge er doch noch war. Mein kleiner Junge, den ich mein Leben lang halb bemuttert hatte, weil ich für meine Mom einspringen musste, wenn sie bei der Arbeit war. Karen und ich waren drei Jahre auseinander, aber praktisch wie Zwillinge erzogen worden. Wir waren als Kinder beide gleichermaßen für Leif verantwortlich.
    »Ich kann das nicht«, sagte er immer wieder unter Tränen. »Ich kann ohne Mom nicht leben. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht.«
    »Wir müssen«, erwiderte ich, obwohl ich es mir selbst nicht vorstellen konnte. Wir lagen zusammen in seinem Einzelbett und weinten bis in die frühen Morgenstunden, ehe wir endlich einschliefen.
    Ich erwachte ein paar Stunden später. Bevor ich Leif weckte, fütterte ich die Tiere und packte Tüten mit Lebensmitteln voll, damit wir während unserer Krankenwache etwas zu essen hatten. Um acht fuhren wir im Wagen meiner Mutter nach Duluth. Mein Bruder raste, und aus den Boxen dröhnte Joshua Tree von U2. Wir hörten konzentriert zu und redeten nicht. Die tief stehende Sonne schnitt hell in den Schnee am Straßenrand.
    An der geschlossenen Zimmertür meiner Mutter im Krankenhaus hing ein Zettel mit der Aufforderung, sich vor dem Eintreten im Schwesternzimmer zu melden. Das war neu, aber ich hielt es für eine bloße Formalität. Auf dem Flur kam uns eine Schwester entgegen, und bevor ich sie fragen konnte, sagte sie: »Wir haben ihr Eis auf die Augen gelegt. Sie wollte ihre Hornhaut spenden, deshalb müssen wir das Eis …«
    »Was?«, brach es so heftig aus mir heraus, dass sie zusammenzuckte.
    Ich wartete ihre Antwort nicht ab. Ich rannte, dicht gefolgt von meinem Bruder, zum Zimmer meiner Mutter und riss die Tür auf. Eddie kam uns mit ausgebreiteten Armen entgegen, aber ich wich ihm aus und stürzte zu meiner Mutter. Ihre Arme lagen wächsern auf der Seite, gelb und weiß und schwarz und blau. Nadeln und Schläuche waren entfernt. Auf ihren Augen lagen zwei mit Eis gefüllte Operationshandschuhe, deren dicke Finger albern über ihr Gesicht herabhingen. Als ich meine Mutter anfasste, rutschten die Handschuhe herunter, fielen aufs Bett und von dort auf den Fußboden.
    Ich heulte und heulte und heulte und vergrub mein Gesicht in ihrem Körper wie ein Tier. Sie war seit einer Stunde tot. Ihre Gliedmaßen waren abgekühlt, aber ihr Bauch war noch eine Insel der Wärme. Ich drückte mein Gesicht in die Wärme und heulte

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