Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
noch mehr.
Ich träumte unablässig von ihr. In den Träumen war ich immer bei ihr, als sie starb. Und ich war es, die sie tötete. Immer wieder und wieder. Sie befahl mir, es zu tun, und jedes Mal fiel ich weinend auf die Knie und flehte sie an, das nicht von mir zu verlangen, aber sie blieb hart, und ich fügte mich jedes Mal wie eine brave Tochter. Ich band sie an einen Baum in unserem Garten, goss ihr Benzin über den Kopf und zündete sie an. Ich ließ sie den Feldweg entlanglaufen, der an unserem selbst gebauten Haus vorbeiführte, und überfuhr sie dann mit meinem Pick-up. Ihr Körper blieb an einem gezackten Metallteil am Unterboden hängen. Ich schleifte ihn mit, bis er sich löste, dann legte ich den Rückwärtsgang ein und überrollte ihn ein zweites Mal. Ich nahm einen kleinen Baseballschläger und schlug sie damit tot, langsam, feste und traurig. Ich zwang sie, in eine Grube zu steigen, die ich ausgehoben hatte, und begrub sie bei lebendigem Leib, indem ich mit den Füßen Steine und Erde in das Loch schob. Diese Träume hatten nichts Unwirkliches. Sie spielten sich bei normalem, klarem Tageslicht ab. Sie waren Dokumentarfilme meines Unterbewusstseins und erschienen mir so real wie das Leben. Mein Pick-up war wirklich mein Pick-up, unser Garten war wirklich unser Garten, der kleine Baseballschläger stand in unserem Schrank zwischen den Regenschirmen.
Ich erwachte aus diesen Träumen nicht weinend. Ich erwachte schreiend. Paul packte mich und hielt mich fest, bis ich mich beruhigte. Er tränkte einen Waschlappen mit kaltem Wasser und legte ihn mir aufs Gesicht. Aber diese nassen Lappen konnten die Träume von meiner Mutter nicht wegwaschen.
Nichts konnte das. Nichts würde es jemals können. Nichts würde mir meine Mutter zurückbringen oder mich damit versöhnen können, dass sie tot war. Nichts konnte etwas daran ändern, dass ich nicht bei ihr gewesen war, als sie starb. Es brach mir das Herz. Es warf mich aus der Bahn. Es zog mir den Boden unter den Füßen weg.
Ich brauchte Jahre, um wieder meinen Platz zwischen den zehntausend Dingen einzunehmen. Um wieder die Frau zu werden, die meine Mutter großgezogen hatte. Um mich daran zu erinnern, wie sie »Schatz«gesagt hatte, und mir wieder diesen Blick vorzustellen. Ich litt. Ich litt so sehr. Ich wollte die Dinge anders haben, als sie waren. Dieser Wunsch war eine Wildnis, aus der ich allein wieder herausfinden musste. Ich brauchte dafür vier Jahre, sieben Monate und drei Tage. Ich wusste nicht, wohin ich ging, bis ich dort war.
Bis ich an der Brücke der Götter war.
2 –
Zweigeteilt
Müsste ich eine Karte dieser viereinhalb Jahre zeichnen, um die Zeit zwischen dem Todestag meiner Mutter und dem Tag zu illustrieren, an dem ich mit der Wanderung auf dem Pacific Crest Trail begann, würde dabei ein Gewirr von Linien herauskommen, die in alle Richtungen führen und deren Mittelpunkt natürlich Minnesota bildet wie eine Funken sprühende Wunderkerze. Nach Texas und zurück. Nach New York City und zurück. Nach New Mexico, Arizona, Kalifornien und Oregon und zurück. Nach Wyoming und zurück. Nach Portland, Oregon, und zurück. Noch einmal nach Portland und zurück. Und noch einmal. Aber diese Linien würden nicht die Geschichte erzählen. Die Karte würde nur zeigen, wohin ich mich geflüchtet hatte, nicht aber, wie ich immer wieder zu bleiben versuchte. Sie würde nicht zeigen, wie ich mich in den Monaten nach dem Tod meiner Mutter bemühte, vergeblich bemühte, die Lücke, die sie hinterlassen hatte, zu füllen und die Familie zusammenzuhalten. Oder wie ich um die Rettung meiner Ehe kämpfte, noch während ich sie durch meine Lügen zerstörte. Sie würde nur diese Wunderkerze und jeden einzelnen sprühenden Funken zeigen.
Als ich an dem Abend, bevor ich die Wanderung auf dem PCT begann, in der kalifornischen Stadt Mojave ankam, hatte ich Minnesota zum letzten Mal verlassen. Ich hatte sogar mit meiner Mutter darüber gesprochen, auch wenn sie mich nicht hören konnte. Ich hatte in dem Blumenbeet in unserem Wald gesessen, wo Eddie, Paul, meine Geschwister und ich ihre Asche unter die Erde gemischt und einen Grabstein aufgestellt hatten, und ihr erklärt, dass ich künftig nicht mehr da sein würde, um ihr Grab zu pflegen. Was bedeutete, dass es niemand mehr pflegen würde. Mir blieb keine andere Wahl. Ich musste ihr Grab dem Unkraut überlassen, den Zweigen und Zapfen, die von den Kiefern fielen. Dem Schnee und den Ameisen, den Hirschen, den
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