Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Schwarzbären und den Erdwespen. Ich legte mich in die Mutterascheerde zwischen den Krokussen und sagte ihr, dass es in Ordnung sei. Dass ich kapituliert hätte. Dass sich seit ihrem Tod alles verändert habe. Wie sie es sich nie habe vorstellen können, wie sie es nie geahnt habe. Ich sprach mit leiser, fester Stimme. Ich war so traurig, dass es mir die Kehle zuschnürte, und doch war mir, als hänge mein ganzes Leben davon ab, dass ich diese Worte herausbrachte. Sie werde immer meine Mutter bleiben, sagte ich zu ihr, aber nun müsse ich fort. In diesem Blumenbeet sei sie ohnehin nicht mehr für mich da, erklärte ich ihr. Ich würde die Erinnerung an sie woanders bewahren. An dem einzigen Ort, wo ich sie erreichen könne.In mir.
Am nächsten Tag verließ ich Minnesota für immer. Ich wollte auf dem PCT wandern.
Es war die erste Juniwoche. Ich fuhr in meinem 1979er Chevy Luv Pick-up, den ich mit einem Dutzend Kartons voller Trockennahrung und Wanderzubehör beladen hatte, nach Portland. Ich hatte Wochen damit zugebracht, die Sachen zusammenzustellen und alle Kartons mit Adressaufklebern zu versehen, auf denen neben meinem Namen auch die Namen von Orten standen, an denen ich noch nie gewesen war, Etappenziele entlang dem PCT mit so wohlklingenden Namen wie Echo Lake und Soda Springs, Burney Falls und Seiad Valley. Ich ließ den Pick-up und die Pakete bei meiner Freundin Lisa in Portland – sie sollte mir die Pakete im Lauf des Sommers zuschicken –, flog nach Los Angeles und fuhr dann mit dem Bruder einer Bekannten nach Mojave.
Wir kamen am frühen Abend in der Stadt an, als die Sonne ein Dutzend Kilometer hinter uns gerade in den Tehachapi Mountains versank. In eben den Bergen, durch die ich am nächsten Tag wandern sollte. Mojave liegt ungefähr neunhundert Meter über dem Meeresspiegel, aber ich kam mir vor wie auf dem Grund von etwas, denn die Reklameschilder von Tankstellen, Restaurants und Motels überragten die größten Bäume.
»Dort kannst du mich rauslassen«, sagte ich zu dem Mann, der mich von Los Angeles hergefahren hatte, und deutete auf eine altmodische Neonreklame mit dem Schriftzug WHITE’S MOTEL. Darüber leuchtete gelb TV und darunter rosa ZIMMER FREI . Aus dem maroden Äußeren des Gebäudes schloss ich, dass es das billigste Hotel in der Stadt war. Genau das Richtige für mich.
»Danke fürs Herfahren«, sagte ich, als wir auf den Parkplatz rollten.
»Gern geschehen«, sagte er und sah mich an. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Ja«, antwortete ich mit gespielter Zuversicht. »Ich bin schon oft allein gereist.« Ich stieg mit meinem Rucksack und zwei übergroßen, prall gefüllten Kaufhaustüten aus. Eigentlich hatte ich vor der Abreise aus Portland den Inhalt der Tüten in den Rucksack umpacken wollen, war aber nicht mehr dazu gekommen und hatte deshalb die Tüten mitgeschleppt.Ich wollte es in meinem Zimmer nachholen.
»Viel Glück«, sagte der Mann.
Ich sah ihm nach, wie er wegfuhr. Die heiße Luft schmeckte wie Staub, der trockene Wind peitschte mir die Haare in die Augen. In den Parkplatzbelag waren lauter kleine weiße Kieselsteine einzementiert, das Motel selbst bestand aus einer langen Reihe von Türen und Fenstern, an denen schäbige Vorhänge hingen. Ich schulterte den Rucksack und raffte die Tüten zusammen. Es war ein komisches Gefühl, nicht mehr zu besitzen. Plötzlich fühlte ich mich schutzlos, weniger euphorisch, als ich erwartet hatte. In den letzten sechs Monaten hatte ich mir diesen Augenblick immer wieder vorgestellt, aber jetzt, wo ich hier war – nur neunzehn Kilometer vom PCT entfernt –, erschien mir alles längst nicht mehr so lebendig wie in meiner Fantasie, als würde ich träumen, als hätte sich mein Denken verlangsamt, als wäre es vom Willen getrieben statt vom Instinkt. Geh rein, musste ich mir sagen, bevor ich mich in Richtung Empfang in Bewegung setzen konnte. Frag nach einem Zimmer.
»Macht achtzehn Dollar«, sagte die alte Frau, die hinter dem Empfangstisch stand. Mit rüder Unverhohlenheit spähte sie an mir vorbei durch die Glastür, durch die ich eben eingetreten war. »Außer Sie sind in Begleitung. Dann kostet es mehr.«
»Ich habe keinen Begleiter«, sagte ich und wurde rot – erst als ich die Wahrheit sagte, kam ich mir wie eine Lügnerin vor. »Der Mann hat mich nur hier abgesetzt.«
»Dann macht es achtzehn Dollar«, erwiderte sie. »Aber wenn Sie doch noch Gesellschaft bekommen, müssen Sie mehr bezahlen.«
»Es wird niemand
Weitere Kostenlose Bücher