Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
und mit den Händen das Tempo schlagend, so schon stundenlang den weiten Platz nach allen Richtungen durchmessen hatte, kamen wir plötzlich dicht an die Landstraße zu stehen und machten dort halt und Front gegen dieselbe. Der Exerziermeister, welcher hinter der Front stand, ließ uns eine Weile regungslos verharren, um einige Ausstellungen an unseren Gliedmaßen anzubringen. Während er hinter unserm Rücken lärmte und schalt, soweit es ihm Gesetz und Sitte nur immer erlaubten, und wir so mit dem Gesichte gegen die Straße gewendet ihm zuhörten, kam ein großer, mit vier Pferden bespannter Wagen angefahren, wie die Auswanderer ihn herzurichten pflegen, welche sich nach den Seehäfen begeben. Dieser Wagen war mit ansehnlichem Gute beladen und schien mehreren Familien zu dienen, die nach Amerika zogen. Kräftige Männer gingen neben den Pferden, vier oder fünf Frauen saßen auf dem Wagen unter einem bequemen Zeltdache nebst mehreren Kindern und selbst einem Greise.
Aber diesen Leuten hatte sich Judith angeschlossen; denn ich entdeckte sie, als ich zufällig hinsah, hoch und schön unter den Frauen, mit Reisekleidern angetan. Ich erschrak heftig, und das Herz schlug mir gewaltig, während ich mich nicht regen noch rühren durfte. Judith, welche im Vorüberfahren, wie mir schien, mit finsterm Blicke auf die Soldatenreihe sah, erschaute mich mitten in derselben und streckte sogleich die Hände nach mir aus. Aber im gleichen Augenblicke kommandierte unser Tyrann »Kehrt euch!« und führte uns wie ein Besessener im Geschwindschritte ganz an das entgegengesetzte Ende des weiten Platzes. Ich lief immer mit, die Arme vorschriftsmäßig längs des Leibes angeschlossen, »die Daumen auswärts gekehrt«, ohne mir etwas ansehen zu lassen, obgleich ich heftig bewegt war; denn in diesem Augenblicke war es mir, als ob sich mir das Herz in der Brust drehen wollte. Als wir endlich das Gesicht wieder der Straße zuwandten, nach den maßgebenden Zickzackgedanken im Gehirne des Führers, verschwand der Wagen eben in weiter Ferne.
Glücklicherweise ging man nun auseinander, und indem ich mich sogleich entfernte und die Einsamkeit suchte, fühlte ich, daß jetzt der erste Teil meines Lebens abgeschlossen sei und ein anderer beginne.
Neuntes Kapitel
Daß Pergamentlein
Wie lang ist es her, seit ich das Vorstellende geschrieben habe. Ich bin kaum derselbe Mensch, meine Handschrift hat sich längst verändert, und doch ist mir zu Mut, als führe ich jetzt fort zu schreiben, wo ich gestern stehenblieb. Dem unveränderlichen Lebenszuschauer sind Stern und Unstern gleich kurzweilig, und er zahlt seinen wechselnden Platz unbesehen mit Tagen und Jahren, bis seine fliehende Münze zu Ende geht.
Der Wendepunkt, welcher mit dem Entschwinden der ersten Jugendzeit und der Judith unvermerkt genaht war, zeigte sich in der Notwendigkeit, meine Kunstübungen nunmehr einem Abschluß entgegenzuführen. Es galt, jenen Weg in die weite Welt anzutreten, nach welcher so viele tausend Jünglinge täglich ausfahren, von denen so mancher nie mehr wiederkommt. Diese alltägliche Angelegenheit war meinesteils so beschaffen, daß ich für eine beschränkte Zeit ohne Nahrungssorgen noch dem Lernen obliegen konnte, mit der Aussicht jedoch auf einen bestimmten Tag, an welchem ich auf mir selber zu stehen hatte.
Eine von Vatersseite vor Jahren mir zugefallene geringe Erbsumme lag nach gesetzlichen Vorschriften in der Verwaltung des Oheims, welcher mir zum Vormunde bestellt war, obgleich er sich selten im meine Sachen mischte.
Da fragliches Geld aber den Aufenthalt an der Künstlerschule ermöglichen sollte, die ich in herkömmlicher Weise gewählt, so war eine vormundschaftliche Verhandlung nötig, um dasselbe flüssig machen und aufbrauchen zu dürfen. Der Fall war im ländlichen Heimatorte ganz neu, und niemand vermochte sich zu erinnern, daß jemals die schlichten Landmänner der Waisenbehörde darüber zu Gericht gesessen seien, ob ein junger Musensohn sein Vermögen zusammenpacken und aus dem Lande fahren dürfe, um es buchstäblich zu verzehren. Dagegen hatten sie seit einiger Zeit das lebendige Beispiel eines Menschen unter sich, der dieses Geschäft ohne ihr Zutun verrichtet hatte und der Schlangenfresser genannt wurde. An entfernten Orten unter dem Schutze leichtsinniger und unwissender Eltern aufgewachsen, hatte er gleich mir ein Maler werden wollen und sich in Sammetröcken und engen Beinkleidern, mit langen Locken und Sporen an den Füßen auf
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