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Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]

Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]

Titel: Der gruene Heinrich [Zweite Fassung] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gottfried Keller
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heute zu leben brauchte und er nur einiger veränderter äußerer Schicksale bedürfte, und der kräftige Gottesschauer wäre ein ebenso kräftiger und schwungvoller Philosoph unserer Zeit geworden!«
    »Das wird mir denn doch zu bunt«, rief der Kaplan; »aber Sie vergessen nur, daß es zu Schefflers Zeiten doch auch schon Denker, Philosophen und besonders auch Reformatoren gegeben hat und daß eine kleinste in ihm vorhandene Ader von Verneinung vollkommen Gelegenheit gehabt hätte, sich auszubilden!«
    »Sie haben recht!« erwiderte ich, »aber nicht ganz in Ihrem Sinne. Was ihn abgehalten hätte und wahrscheinlich noch heute abhalten würde, ist der Gran von Frivolität und Geistreichigkeit, mit welcher sein glühender Mystizismus versetzt ist; diese kleinen Elementchen würden ihn bei aller Energie des Gedankens auch jetzt noch im mystagogischen Lager festhalten!«
    »Frivolität!« rief der Kaplan, »immer besser! Was wollen Sie damit sagen?«
    »Auf dem Titel«, versetzte ich, »benennt der fromme Dichter sein Buch mit dem Zusatz: Geistreiche Sinn-und Schlußreime. Allerdings hat das Wort geistreich im damaligen Sprachgebrauch nicht ganz die jetzige Bedeutung; wenn wir aber das Büchlein aufmerksamer durchgehen, so finden wir, daß es in der Tat auch im heutigen Sinne etwas allzu geistreich und zuwenig einfach ist, so daß jene Bezeichnung jetzt wie eine ironische Voraussage erscheint.
    Dann sehen Sie aber auch die Widmung an, die Dedikation, worin der Mann seine Verse dem lieben Gott dediziert, indem er ganz die Form nachahmt, selbst in der Anordnung des Drucksatzes, in welcher man damals großen Herren ein Buch zuzueignen pflegte, bis zur Unterschrift Sein allezeit sterbender Johannes Angelus.
    Betrachten Sie den bitterlich ernsten Gottesmann, den heiligen Augustinus, und gestehen Sie aufrichtig: trauen Sie ihm zu, daß er ein Buch, worin er sein religiöses Herzblut ergossen, mit solch einer witzelnden, affektierten Dedikation versehen hätte? Glauben Sie überhaupt, daß es demselben möglich gewesen wäre, ein so kokett launiges Büchlein zu schreiben, wie dies eines ist?
    Er hatte Geist so gut als einer, aber wie streng hält er ihn in der Zucht, wo er es mit Gott zu tun hat! Lesen Sie seine Bekenntnisse, wie rührend und erbaulich ist es, wenn man sieht, wie ängstlich er alle sinnliche und geistreiche Bilderpracht, alle Selbsttäuschung oder Täuschung Gottes durch das sinnliche Wort flieht und meidet. Wie er vielmehr jedes seiner strikten und schlichten Worte unmittelbar an Gott selbst richtet und unter dessen Augen schreibt, damit ja kein ungehöriger Schmuck, keine Illusion, keine Art von Schöntun mit Unreinem in seine Geständnisse hineinkomme!
    Ohne mich zu solchen Propheten und Kirchenvätern zählen zu wollen, kann ich doch diesen ganzen und ernstgemeinten Gott mitfühlen, und erst jetzt, wo ich ihn nicht mehr habe, erkenne ich die willkürliche und humoristische Manier meiner lugend, in welcher ich mit meiner vermeintlichen Religiosität die göttlichen Dinge zu behandeln pflegte, und ich müßte mich nachträglich selber der Frivolität zeihen, wenn ich nicht annehmen könnte, daß jene verblümte und spaßhafte Art eigentlich nur die Hülle der völligen Geistesfreiheit gewesen sei, die ich mir endlich erworben habe.«
    »Haha!« lachte der Priester jetzt aus vollem Halse, »da haben wir's wieder!
    Geistesfreiheit, Frivolität! Da zappelt der Fisch wieder an der langen Schnur und hält sich für einen Luftspringer! Bald wird er nach Luft schnappen! Den Teufel spürt das Völkchen nie! möchte man fast ausrufen, wenn's nicht den lieben Herrgott anginge, verzeih mir Gott die Sünde!«
    Ärgerlich, daß ich dem humoristischen Fliegenfänger nun doch wieder ins Garn gefallen, entzog ich mich der Unterhaltung und trat schweigend an ein Fenster, wo ich die Sterne des Großen Wagens ihren stillen Weg fahren sah.
    Auf einmal rief Dorothea, welche inzwischen das Buch in die Hand genommen hatte:
    »Beim Himmel, da steht das artigste Frühlingsliedchen, das ich je gesellen!
    Hört:

    ›Blüh auf, gefrorner Christ!
    Der Mai ist vor der Tür,
    Du bleibest ewig tot,
    Blühst du nicht jetzt und hier!‹«

    Sie eilte ans Klavier, spielte und sang diese Worte in einem altertümlichen Choralsatze von sehnsüchtig lockendem Tone, doch trotz der kirchlichen Form mit einem verliebt zitternden, weltlichen Ausdruck ihrer Stimme.

Dreizehntes Kapitel
    Das eiserne Bild
    Obgleich noch nicht Weihnacht da war, schien

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