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Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]

Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]

Titel: Der gruene Heinrich [Zweite Fassung] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gottfried Keller
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die Wahrheit meines Zustandes zu gestehen mich scheute und doch auch nicht lügen mochte. Die Zeit zu scherzhaften Flunkereien und Phantasiespielen, auch im harmlosen Sinne des Wortes, war für einmal vorbei.
    Es vergingen wohl zehn Monate, bis ich über mich vermochte, an den Grafen zu schreiben, ohne unwahr zu sein oder allzu elend zu erscheinen.
    Er vergalt mir die Saumseligkeit nicht mit gleicher Münze; vielmehr erhielt ich bald einen längern Brief von ihm, in welchem er meine Lage, soweit er sie begriff, mit guten Worten besprach und als den Lauf der Welt darstellte, wie er durch Paläste und Hütten gehe, Gerechte und Ungerechte heimsuche und seiner Natur gemäß unablässig sich verändere.
    »Was unser Dortchen betrifft«, fuhr er fort, »so erfährt sie, und wir andere mit ihr, in gehäuftem Maße auch ihr Teil. Seit Du weg bist, hat sich das Abenteuer begeben, daß sie – meine blutsverwandte Nichte und nichts anderes geworden ist! Ich kann Dir den Hergang nicht des weitern auseinandersetzen, nur mit ein paar Strichen andeuten Von der bald nach dem Tode meines in den südamerikanischen Händeln umgekommenen Bruders ebenfalls verstorbenen Witwe ist durch Letzten Willen verordnet worden, es solle das Kind durch zuverlässige Leute seinen deutschen Verwandten zugesandt werden. Diese Leute sind aber untreu gewesen. Um gewisse Vermögensteile, die man unvorsichtigerweise ihnen zugleich mitgegeben hat (übrigens unbedeutende Summen), behalten zu können, haben sie mir das Kind auf dem Wege der Aussetzung in die Hände gespielt. Sie haben sich richtig bei jenen Auswanderern nach Südrußland befunden oder sich ihnen vielmehr auf dem Wege in der Donaugegend angeschlossen und die Sache sehr schlau angestellt.
    Da aus Amerika nie mehr eine Nachfrage anlangte, sowenig als früher ein Bericht von der Absendung des Kindes und dem Tode der Mutter, so hat alles so geschehen können. Erst neuerlich, weil das alt gewordene Sünderpaar vom Gewissen, wahrscheinlich auch von dem Gelüste nach einer Gnadenbelohnung geplagt wurde, haben sich die Leutchen mit allen in solchen Wiederfindungsgeschichten üblichen wohlaufgehobenen Beweisen gemeldet, und wir haben also eine Gräfin mehr im deutschen Vaterlande! Wie lange es dauert, bis sie zum Gegenstande eines oder mehrerer Romane gemacht wird, steht dahin; ich habe sie auch auf einige Volksschauspiele und Melodramen vorbereitet. Allein sie hört nicht darauf, da sie bereits die Ausarbeitung des zweiten Teiles des Romanes begonnen hat. Vor vier Wochen hat sich Gräfin Dorothea W...berg (eigentlich heißt sie von Haus aus Isabel) mit einem jungen Freiherrn Theodor von W...berg verlobt. Das ist nämlich ein hübscher und wackerer Gesell aus einer Linie der so benamsten Leute, welche die unsrige seit Jahrhunderten nichts mehr angeht. Man wird ihm den Grafentitel verschaffen, und ich werde gestatten, daß das Majorat auf ihn übergeht. Denn ich habe ebensowenig Grund, das Fortbestehen des Namens zu hindern, als dasselbe zu wünschen. Wie die Dinge stehen, ist es mir absolut gleichgültig, wenn ich etwa von dem Vergnügen absehe, das ich dem Kinde mache, indem ich seinem Bräutigam gefällig bin.
    Nun kommt aber noch eine Betrachtung, die uns beide angeht, lieber Freund Heinrich! Ich habe gut gesehen, daß Du Dich in Dortchen verliebt hast!
    Ich habe getan, als sähe ich es nicht, weil ich mich in dergleichen nicht mische, wo die Leute sich selbst helfen können und wissen, was sie zu tun haben.
    Besonders die langhaarige Nation ist so unberechenbar, daß es nicht lohnend ist, sich ohne Not mit gutem Rate bloßzustellen. Auch Du bist dem Kinde nicht gleichgültig gewesen und auch jetzt noch gut angeschrieben, und es stellt sich die Sache ungefähr so: Hättest Du, was Du als ein maßhaltender Mensch nicht getan hast, während Deines Hierseins die Zeit und Deinen Vorteil wahrgenommen oder hättest Du bald nach der Ankunft in Deinem Vaterlande von Dir hören lassen, so wäre, glaub ich, Dorothea bis zur Stunde die Deinige geblieben. Nachdem Du aber eine so rätselhafte Zeit hast verstreichen lassen, ist sie über diese Kluft weggesprungen, als der entschlossene Freier erschien, der sie zugleich in so glücklicher Weise wieder in die weltliche Ordnung einreibt. Aber auch von diesem Begreiflichen abgesehen, müssen wir die Unbeständigkeit des Kindes, soweit eine solche vorhanden ist, nicht hart beurteilen. Die guten Weiblein sind so auf sich selbst angewiesen und müssen im Grunde die

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