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Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]

Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]

Titel: Der gruene Heinrich [Zweite Fassung] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gottfried Keller
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auf mein Gewissen fiel mit einem Gewichte, gegen welches der Druck von Dorotheas eisernem Bilde leicht wie eine Flaumfeder schien; oder auch umgekehrt ich möchte sagen, daß die Schwere in ein Gefühl der Leerheit überging, wie der höchste Kältegrad einem Brennen gleicht. Es war fast, wie wenn meine eigene Person aus mir wegzöge.
    Die Aufforderung der freundlichen Nachbarsleute, das Nachtlager bei ihnen zu nehmen, lehnte ich ab, weil es mir unmöglich schien, die Mutter allein zu lassen. Ich ging mit der anbrechenden Abenddämmerung in unser Haus zurück. Jetzt stand auch der schwärzliche Spenglermeister unter seiner Stubentüre; ich grüßte ihn, und er und mich mit forschendem Blick ein, bei ihm anzukehren, was ich ausschlug, indem ich nur um ein Licht bat. Mit einem solchen versehen, stieg ich wieder unter das Dach hinauf, trat in das Kämmerchen und zündete das alte Messinglämpchen an, bei dessen Schein ich sie die Jahrzehnte hindurch in den langen Winterabenden hatte sitzen sehen.
    Das Lämpchen war vernachlässigt und nicht mehr blank, jedoch mit Öl gefüllt.
    Da lag sie nun in ihrem Frieden, und ich, der ich so gedankenlos gezögert, zu ihr zu kommen, fand jetzt nur noch einigen Trost an ihrer stillen Gegenwart, an deren Aufhören ich nicht denken durfte. Ich machte mir mit meiner unglücklichen Schachtel zu schaffen, öffnete dieselbe und zog den feinen Wollenstoff hervor, den ich zu einem Kleide bestimmt hatte. Im Begriff, das Stück auseinanderzufalten und es als leichte schützende Decke über das Bett und die Leiche zu legen, um es ihr nur irgendwie noch nahe zu bringen, fiel mir doch die Nutzlosigkeit einer so gezierten Handlung in so ernster Stunde auf die Seele; ich wickelte das Zeug zusammen und verbarg es wieder in der Schachtel. Obschon ich von der mehrtägigen Fußreise ermüdet war, brachte ich nun die Nacht aufrecht auf dem Strohsesselchen am Fenster zu und schlief dennoch zeitweise, wobei allerdings das Erwachen jedesmal zwiefach schmerzlich war, wenn ich mich aufs neue der Gegenwart der stillen Mutter versicherte.
    Am andern Tag kam der Bote eines Begräbnisvereines, den der Vater noch hatte gründen helfen, und traf alle Anordnungen; ich brauchte keinen Schritt zu tun. Auch die Kosten waren schon lange gedeckt durch die pünktlichen Beiträge der Mutter; es wurde nachträglich sogar noch eine kleine Rückzahlung angeboten. So war sie auch in dieser Hinsicht ohne jegliche Beschwernis für andere aus der Welt gegangen.
    Als ich die betreffenden Papiere in ihrem Nachlasse suchte, mußte ich überhaupt Schrank und Schreibtisch öffnen und fand manche Heimlichkeiten, die ich noch nie gesehen. In einem mit Zinn verzierten hölzernen Kästchen lagen vergilbte Putzsachen ihrer Jugendzeit, wie künstliche Blumen, ein Paar weiße Atlasschuhe, Bänder zusammengepreßt und kaum oder nie gebraucht.
    Dabei einige alte vergoldete Almanache, wahrscheinlich längst verjährte Geschenke, und, was mich am meisten überraschte, ein Buch mit einer kleinen Sammlung abgeschriebener Gedichte oder Lieder, die ihr als Mädchen mochten gefallen haben. Zwischen den Blättern lag ein zusammengefaltetes loses Blatt, ebenfalls von ihrer damaligen erblichenen Handschrift, worauf zu lesen war:
    Verlornes Recht, verlornes Glück
    Recht im Glücke, goldnes Los,
    Land und Leute machst du groß!
    Glück im Rechte, fröhlich Blut, Wer dich hat, der treibt es gut!

    Recht im Unglück, herrlich Schaun, Wie das Meer im Wettergraun!
    Göttlich grollt's am Klippenrand, Perlen wirft es auf den Sand!

    Einen Seemann, grau von Jahren, Sah ich auf den Wassern fahren, War wie ein Medusenschild
    Der erstarrten Unruh Bild.

    Und er sang »Vieltausendmal
    Glitt ich in das Wellental,
    Fuhr ich auf zur Wogenhöh,
    Ruht ich auf der stillen See!

    Und die Woge war mein Knecht,
    Denn mein Kleinod war das Recht; Gestern noch mit ihm ich schlief – Ach, nun liegt's da unten tief!

    In der dunklen Tiefe fern
    Schimmert ein gefallner Stern;
    Und schon ist's wie tausend Jahr, Daß das Recht einst meines war.

    Wenn die See nun wieder tobt,

Niemand mehr den Meister lobt
    Hab ich Glück, verdien ich's nicht, Glück wie Unglück mich zerbricht!«

    Welch ein Gefallen war es gewesen, das ein so junges Mädchen einstmals dies seltsame Gedicht hatte abschreiben und aufbewahren lassen?
    Ich fand noch andere schriftliche Überbleibsel, und zwar aus den letzten Jahren, wo nicht aus letzter Zeit. In einem Mäppchen, das einen geringen Vorrat von

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