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Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]

Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]

Titel: Der gruene Heinrich [Zweite Fassung] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gottfried Keller
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an jenem Ende des Felsbandes stehen und hinüberschauen.
    Dann kehrte sie sich abermals und kam den Weg zurück, gerade mir entgegen.
    Kaum war sie mir etwas näher, so erkannte ich die Judith, von der ich seit zehn Jahren nicht ein Wort vernommen, trotz der fremdartigen Tracht, in die sie gekleidet war. Statt der halb ländlichen Tracht, in der ich sie zuletzt gesehen, trug sie jetzt ein Damenkleid von leichtem grauem Stoffe und einen grauen Schleier um Hut und Hals gewickelt, alles aber so ungezwungen, ja bequem, daß man sah, ihre ungebrochenen Bewegungen hatten sich in einem reichlichern und breitern Faltenwurfe von selbst Raum verschafft, ohne daß sie im mindesten schlotterig oder auch eckig ausgesehen hätte. In jenem Augenblicke stellte ich natürlich derartige Beobachtungen nicht an; sie erklären nur den Eindruck, welchen die unverhoffte Erscheinung auf mich hervorbrachte.
    An dem Gesichte hatten die zehn Jahre keine andere Veränderung bewirkt, als daß es selbstbewußter geworden und durch einen sibyllenhaften Anhauch eher veredelt als entstellt war. Erfahrung und Menschenkenntnis lagerten um Stirn und Lippen, und doch leuchtete aus den Augen noch immer die Treuherzigkeit eines Naturkindes.
    So sah ich sie, die Augen erstaunt auf sie gerichtet, mir nahe kommen und die Schritte verlangsamen, als sie meiner ansichtig wurde. Mein Anblick mußte sich mehr verändert haben als der ihre; denn sie schien unschlüssig, ging jetzt etwas rascher und hielt doch wieder an sich, im Begriff, an mir vorüberzugehen. Dadurch wäre ich beinah auch unsicher geworden, und erst als ich ganz dicht vor ihr stand auf dem schmalen Pfade, konnte ich nicht mehr irren und rief: »Judith!«
    Aber gleichzeitig überflog eine unverstellte und doch unbeschreiblich milde Freude ihr schönes Gesicht; meine Hand lag in ihrer warmen festen Hand, und nach alter Volkesweise öffnete sie dieselbe nicht so bald.
    »Sind Sie es?« sagte sie, ohne meinen Namen zu nennen, und ich wagte auch nicht, den ihrigen zu wiederholen, da ich noch weniger wußte, wie ich sie eigentlich nennen sollte; denn es war durchaus nicht wahrscheinlich, daß eine solche Person allein geblieben sei. Ich fragte daher unbeholfen nur, wo sie herkomme?
    »Aus Amerika!« erwiderte sie; »seit vierzehn Tagen bin ich hier!«
    »Wo hier? In unserm Dorf?«
    »Wo anders denn? Ich wohne im Wirtshaus, da ich sonst niemanden mehr habe!«
    »Sind Sie allein da?«
    »Gewiß; wer soll bei mir sein?«
    Ohne daß ich irgendwie weiterdachte, machte mich diese Antwort glücklich; Jugendglück, Heimat, Zufriedenheit, alles schien mir seltsamerweise mit Judith zurückgekehrt oder vielmehr wie aus dem Berge herausgewachsen zu sein. Indessen waren wir ohne Plan auf dem Pfade weitergegangen, bald dicht aneinandergedrängt, bald eins hinter dem andern, wie es der Raum erlaubte.
    »Wissen Sie, wo ich Sie das letzte Mal gesehen habe?« sagte sie jetzt, indem sie sich nach mir zurückwandte; »als ich auf einem Wagen aus dem Lande fuhr und sie als Soldat auf dem Felde standen in einer kleinen Reihe von Leuten. Da drehtet ihr euch alle, wie an einer Schnur gezogen, plötzlich um, und ich dachte Den bekommst du nie mehr zu sehen!«
    Ein Weilchen gingen wir schweigend; dann fragte ich, wo sie denn hingehen wolle und ob ich sie eine Strecke begleiten dürfe?
    »Ich habe nur einen Spaziergang gemacht«, sagte sie, »und denke, ich muß jetzt wieder nach Haus. Würde es Ihnen zu weit sein, mit mir bis ins Dorf zu gehen?«
    »Ich komme gern mit Ihnen und will in Ihrem Wirtshause zu Nacht essen«, antwortete ich; »nachher lasse ich mich in des Wirts kleinem Fuhrwerk heimführen; denn von dort sind es drei gute Wegstunden.«
    »Oh, das ist schön von Ihnen! Ich haue doch heut früh schon eine Ahnung, daß mir etwas Gutes geschehen würde, und nun ist der Heinrich Lee bei mir, der Herr Vetter und Oberamtmann!«
    Wir fanden bald einen breitern Weg und wanderten in traulichem Geplauder nach dem Dorfe; aber noch eh wir dasselbe erreichten, hatten wir uns unbewußt zu duzen angefangen, was wir als Blutsverwandte auch füglich tun durften. Das erste Haus, an dem wir vorübergingen, war das meines verstorbenen Oheimes; aber es waren fremde Leute darin, seine Kinderwaren zerstoben. Kleine fremde Kinder liefen uns nach und riefen: »Die Amerikanerin!« Einige boten ihr ehrfürchtig die Hand, und sie schenkte ihnen kleine Münzen. Als wir bei ihrem Hause vorbeikamen, standen wir einen Augenblick still. Der jetzige

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