Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
Briefpapier enthielt, lag ein Blatt, das offenbar zu einem Briefe als Fortsetzung gehörte, indem die Schrift ganz oben in der linken Ecke anfing.
Das Fragment aber lautete:
»Wenn es nun Gott wirklich geschehen läßt, daß mein Sohn unglücklich werden und ein irrendes Leben führen sollte, so tritt die Frage an mich heran, ob nicht mich, seine Mutter, die Verschuldung trifft, insofern ich es in meiner Unwissenheit an einer festen Erziehung habe mangeln lassen und das Kind einer zu schrankenlosen Freiheit und Willkür anheimgestellt habe. Hätte ich nicht suchen sollen, daß unter Mitwirkung Erfahrener einiger Zwang angewendet und der Sohn einem sichern Erwerbsberufe zugewendet wurde, statt ihn, der die Welt nicht kannte, unberechtigten Liebhabereien zu überlassen, die nur geldfressend und ziellos sind? Wenn ich sehe, wie wohlgestellte Väter ihre Söhne zwingen, oft schon vor dem zwanzigsten Jahre ihr Brot zu verdienen, und wie das solchen Söhnen nur zu nützen scheint, so fällt der traurige, altbekannte Selbstvorwurf mir doppelt schwer, und ich hätte in meiner Arglosigkeit nie gedacht, daß eine solche Erfahrung mich jemals heimsuchen könnte. Freilich habe ich seinerzeit um Rat gefragt; als man aber den Wünschen des Kindes nicht zustimmte, hörte ich auf zu fragen und ließ es gewähren. Damit habe ich mich über meinen Stand erhoben und, indem ich mir einbildete, ein Genie in die Welt gesetzt zu haben, die Bescheidenheit verletzt und das Kind geschädigt, daß es sich vielleicht niemals erholen wird.
Wo soll ich nun die Hilfe suchen?«
Hier brach die Schrift ab; denn vom nächsten Worte stand nur noch der Anfangsbuchstabe. An wen der Brief gerichtet war, ob er mit oder ohne obiges Bruchstück oder gar nicht abgegangen, wußte ich nicht, und eine Antwort fand sich unter den aufbewahrten Briefschaften nicht vor. Wahrscheinlich hatte sie die Sache doch unterdrückt. Dagegen verschmolz sich nun die in dem Gedichte von dem verlornen Glücke aufgeworfene wunderliche Rechtsfrage mit derjenigen des Brieffragmentes und fiel mir zu Lasten als dem einzigen haftbaren Inhaber der Schuld.
So war nun der Spiegel, welcher das Volksleben widerspiegeln sollte, zerschlagen und der Einzelmann, der an der Volksmehrheit so hoffnungsreich mitwachsen wollte, rechtlos geworden. Denn da ich die unmittelbare Lebensquelle, die mich mit dem Volke verband, vernichtet hatte, so besaß ich kein Recht, unter diesem Volke mitwirken zu wollen, nach dem Worte Wer die Welt will verbessern helfen, kehre erst vor seiner Türe.
Nachdem das Grab der Ärmsten sich geschlossen, bewohnte ich einige Zeit das Stübchen, worin sie gestorben. Dann verkaufte ich mit dem Rate des Nachbars das Haus und gewann in der Tat mehrere Tausende an dem Handel, so daß ich nun mit dem, was ich hergebracht, und dem Gewinn zusammen ein kleines Vermögen besaß, aus welchem ich bescheiden und zurückgezogen leben konnte. Das zufällige Wesen aber, das dem winzigen Reichtum anhaftete, ließ mich seiner nicht froh werden, noch weniger ein müßiges Leben darauf bauen; und da überdies der Mensch nicht nur von dem leiblichen, sondern auch von einem moralischen Selbsterhaltungstriebe beseelt ist, so nahm ich doch einige Studien vor, wie der Graf sie mir angeraten, nicht um mich hervorzutun, sondern lediglich, soviel nötig war, mich für die Verwaltung eines anspruchslosen und stillen Amtes vorzubereiten und die Ordnung, in welche es eingebaut war, einigermaßen zu übersehen. Im übrigen las ich teils schwerere, teils schönere Sachen allgemeiner Natur, um meinen befangenen und bedrängten Gedanken einige Freiheit und Zerstreuung zu verschaffen. Denn während das Reuleid wegen der Mutter allmählich zu einem düstern, aber gleichmäßig ruhigen Hintergrunde von Freudlosigkeit wurde, begann sich das Bild der Dorothea wieder lebendiger zu regen, ohne Licht in das Dunkel zu bringen.
Ich trug den Spruch von der Hoffnung, auf das grüne Papier gedruckt, noch immer in meinem Brief-und Schreibtäschchen auf der Brust und las ihn zuweilen mit ungläubigem Seufzen und Kopfschütteln. Den Glücksfall vorausgesetzt, den die schlichten Worte zu verkünden schienen, war ich doch in der Lage, ihn fürchten zu müssen, und fast in der Stimmung eines Prahlers, der in der Ferne eine glänzende Schöne an sich gezogen hat, welcher er die schlechte Hütte nicht zeigen darf, darin er wohnt. Sogar zum bloßen freundlichen Verkehr in die Weite schien ich mir jetzt nicht fähig, da ich
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